Sie kennen das. Sie treten in einen bühnenbildnerisch gestalteten Raum ein, in dem andere wie sie auf ein stimmungsvolles Konzert oder eine anrührende Kunstperformance warten. Sie erspüren eine nur schwerlich in Worten auszudrückende Atmosphäre, sie sind ergriffen und ein erstes Anzeichen eines Hochgefühls steigt in ihnen auf. Sie und der Moment. Aber – wie so oft – es sind nicht nur sie, die diese „einzigartigen“ Gefühle und Emotionen haben, bei anderen ist es vergleichbar. Eine gemeinsam erlebte Situation lässt eine kollektive Realität entstehen, die zu kollektiven Emotionen führt. Leadership Insiders erläutert diesen Prozess genauer und verbindet ihn mit dem Geschehen in Organisationen.
Was sind kollektive Emotionen?
Dies ist offensichtlich eine einfache Frage. Die Antwort ist es nicht ohne Weiteres, denn die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Emotionalen ist lang und facettenreich. Auch mein Kollege Wendelin Küpers und ich haben dazu einmal ein Buch vor mehr als zehn Jahren geschrieben. Da sieht man sehr deutlich, wie Emotionen in Organisationen mitregieren und wie verfehlt es wäre, sie aus den Ansichten und Entscheidungen heraushalten zu wollen. Es geht einfach nicht, sie spielen unbewusst mit, wie nicht zuletzt auch die neurowissenschaftliche Forschung gezeigt hat. Womit haben wir aber überhaupt zu tun? Vieles wird kontrovers diskutiert, aber für unsere Zwecke sollte es wie folgt gehen:
Menschen haben Gefühle. Als Basisgefühle gelten Glück/Freude, Überraschung, Traurigkeit, Furcht/Angst, Ekel, Ärger/Wut, Verachtung, Scham, Schuld, Interesse/Erregung, Scheu, Verlegenheit und Qual. Und die Liebe? Sie ist wie viele andere eine Mischvariante der Einheitsgefühle, hierin vermutlich noch vielgesichtig (mal Glück gemixt mit Qual, mal Glück gemixt mit Erregung usw.).
Gefühle werden erst zu Emotionen, wenn diese dynamischen Zustände durch den Kontakt mit einer anderen Person aufkommen oder beeinflusst werden. Dabei spielt der Kontext immer eine Rolle. Wer alleine durch den Wald läuft, hat danach möglicherweise ein Gefühl der Freude, wer bei einem Abendessen Freude durch die Anwesenheit des Gegenübers empfindet, eine freudige Emotion. Für eine Emotion sind danach mindestens zwei Personen notwendig, was wiederum nicht heißt, dass es sich um eine kollektive Emotion handelt.
Eine kollektive Emotion liegt erst dann vor, wenn die Art der Emotion gleich ist. Bleiben wir beim Abendessen: Die eine ist gelangweilt, der andere fasziniert. Beides wurde durch den anderen bewirkt – es handelt sich also um eine Emotion – aber sie ist keine kollektive und viel anfangen kann man damit gemeinsam nicht. Um wahrhaft kollektiv zu sein, sollte nicht nur die Art der Emotion gleich oder verwandt, sondern deren Intensität zudem auch ungefähr gleich ausgeprägt sein.
Kollektive Emotionen gehen selbstredend über die Zweierkonstellation hinaus: Teamemotionen, geteilte Emotionen in einer Organisation oder innerhalb eines Staates bzw. einer Gruppe von beliebig vielen Menschen, die eine oder mehrere Gemeinsamkeiten besitzen (z.B. die Jungen, die Religiösen, die Städter).
Wie entstehen kollektive Emotionen?
Typischerweise entstehen Emotionen durch Begegnungen zwischen Menschen. Das Interessante ist nun, wie die Emotionen zwischen mehreren Menschen verbreitet werden. Man spricht hier von einer emotionalen Ansteckung („emotional contagion“), die weitergetragen wird. Dies wurde sehr gut untersucht, z.B. hinsichtlich der Beziehung von Mitarbeitern und Kunden oder innerhalb eines Teams. Was damit gemeint ist, formulieren der Deutsch-Niederländer Lindenberg und der Däne Floss anhand eines empirischen Beispiels (2011, S. 515):
“Contagion effects also occur among employees. The more employees see others committed to joint production, the stronger their own commitment becomes”
Und das setzt sich demzufolge fort: Je positiver Kollegen über den Job reden, desto intelligentere Anstrengungen werden unternommen, um innovativ zu sein. Wo freundliche Signale im gegenseitigen Umgang gesendet werden, umso mehr werden empfangen und desto positiver das Gesamtergebnis. Sicherlich in dieser Ausprägung nur als Tendenz zu interpretieren und nicht auf alle Situationen zu übertragen, aber die Verhaltensrichtung ist damit doch vorgespurt.
In einem jüngeren Beitrag (findet sich in einer gelungenen Forschungsübersicht von Jochen Menges und Martin Kilduff aus 2015) wurden 10 Wege identifiziert, wie dies geschehen kann. Klassisch ist das Mimikry. Die Körpersprache, die Gestik oder die Stimme einer Person, z.B. einer Rednerin, wird von Zuhörern aufgenommen und imitiert, wobei dann deren Emotionen bei einem selbst gleichsam reproduziert werden. Wenn der Redner lacht, lachen die Zuhörer usw. und sie empfinden wie der Redner Freude. Ein anderer Weg der Übertragung ist, sich in die Gefühle einer Person hineinzuversetzen und diese dann als Emotion nachzuerleben. Oder man versetzt sich in die Situation einer anderen Person hinein und empfindet die gleiche Emotion wie die beobachtete Person in dieser Situation. Das funktioniert nicht bei allen Menschen gleich und nicht gleich intensiv, aber diese und andere Wege verdeutlichen, wie es wie selbstverständlich funktioniert, auch wenn sie für sich vorab keine Entscheidung getroffen haben, diese Emotion der anderen Person nun auch erleben zu wollen.
Eine grundsätzlich andere Erklärung wird durch die Ansätze geliefert, die die Entstehung von Emotionen durch ein Sensemaking von Ereignissen interpretieren. Mit Sensemaking wird die in der Regel durch eine Führungsfigur vorgenommene Interpretation eines Ereignisses angesprochen, die für eine Zuhörerschaft ein sinnstiftendes Erklärungsangebot enthält und die, wird es geteilt, eine kollektiv geteilte Reaktion hervorruft, zu denen neben Überzeugungen auch Emotionen gehören. Sterben beispielsweise Personen unter mysteriösen Umständen und wird von der politischen Führung eine ausländische Macht mit einer möglichst plausiblen Erklärung dafür verantwortlich gemacht, entsteht ein kollektives Misstrauen, möglicherweise Wut auf diese ausländische Macht. Diese Emotionen sind dann einfach eine natürliche Folge einer Welterklärung aus tiefster Einsicht, könnten aber ebenso dazu genutzt werden, das Verhalten der Zuhörer oder Leserinnen gezielt zu lenken. Um ein anderes Beispiel aus einer Studie mit über 100 beteiligten Organisationen zu geben: Hier schafften es nur die Führenden, die Ereignisse auf und um die Arbeit so ansprachen bzw. erklärten, dass Enthusiasmus und Begeisterung mitschwangen, positive Emotionen in ihrer Organisation breitflächiger zu verankern als diejenigen, denen das längs der Hierarchie nicht gelang.
Kollektive Emotionen sind der Treibstoff der Transformation
Dass Emotionen eine positive wie negative Auswirkung auf den Arbeitserfolg haben können, ist inzwischen abgesichert. Dass sich nicht alle Führungskräfte dafür interessieren, ebenfalls. Weniger bekannt ist, dass es möglich ist, kollektive Emotionen in Organisationen anzuregen. Hierfür gibt es eine Fülle von Belegen, die auf der Teamebene sehr klar sind, bei der Betrachtung größerer Einheiten wie ganzer Organisationen aber etwas schwächer werden. Dies ist aber auch klar, denn je größer die betrachtete Einheit, desto vielfältiger sind dort die individuellen Bedürfnisse, Motive und Zielsetzungen, die allenfalls bei außergewöhnlichen Ereignissen zurücktreten oder transformiert werden.
In der Führung spielten Emotionen immer eine Rolle, nicht immer zwingend kollektive. Aber die (durchaus problematische) charismatische Führungstheorie setzt ja geradezu auf eine Gefolgschaft auf der Basis kollektiver Emotionen. Ebenso begründet die psychoanalytische Führungstheorie die Gefolgschaft mit den emotionsträchtigen Wünschen nach Identifikation mit dem Führenden, die sich im Realen auf eine bestimmte Zielperson hin verschmelzen, um bei der so gekürten Führungsfigur an ihrem Erfolg stellvertretend teilhaben zu können. In Le Bons „Psychologie der Massen“ (1895) leben die Ausführungen zu Führung und Gefolgschaft geradezu von kollektiven Emotionen.
Hinweisen möchte ich aber auf das, vor dem viele Organisationen nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung und den Erwartungen nach einem New Work heute stehen: einer Transformation ihrer Organisation. Diese kann wirklich erfolgreich nur dann betrieben werden, wenn es gelingt, gemeinsam geteilte Emotionen hervorzurufen. Einen konkreten Vorschlag habe ich dazu in meinem Beitrag bereits zum Change Management gemacht, der durch die Fokussierung auf das Besondere (Singularität) solche gemeinschaftlichen Emotionen wecken kann.
Kollektive Emotionen sind am Ende unberechenbar
Führungskräfte und natürlich viel eher Politiker sind bemüht, ihre Botschaften nicht nur emotional zu hinterlegen, sondern das Team bzw. die Zuschauer und Zuhörer in ihrem Sinne zu emotionalisieren. Große Rhetoriker wie Cicero verdanken dem ihr eigenes Überleben. Aber die Warnung folgt auf dem Fuße: Emotionen sind nie sicher hervorzurufen und gerade kollektive Emotionen sind noch einmal von einer ganz besonderen Natur. Sie neigen in größeren Gemeinschaften zur Polarisierung, will sagen, dass sie gemeinhin im Alltag nicht ohne ihr Gegenteil zu haben sind. Selbst die letzten beiden US Präsidenten, Barack Obama und Donald Trump, die kollektive Emotionen außerhalb eines Notstandes hervorrufen konnten, haben dies erlebt. Sie riefen kollektive Emotionen bei maximal rund der Hälfte der zur Wahl gehenden US-Amerikaner in ihrem Sinne hervor. Die jeweilige Gegenseite war hingegen ziemlich missgestimmt oder wütend. Gleichzeitig ist dies ein eindringliches Beispiel dafür, dass sich kollektive Emotionen diametral bei der Einschätzung ein und derselben Person in ihrer Ausrichtung widersprechen können. Es ist nie das Objektive, sondern immer das durch die Sinne gefilterte, was die Emotionen bewirkt, gerade auch die kollektive Emotion.
In neueren Ansätzen wird davon ausgegangen, dass die emotionale Betroffenheit nicht durch das Betrachtete selbst generiert wird (z.B. einer Rede, einer Person, eines Ereignisses). Vorrangig wird es nämlich durch die Wahrnehmung der gesamten Szenerie (z.B. die Stellung der redenden Person im Raum, andere anwesende Personen in seiner Nähe, Einrichtungen usw.) hervorgerufen, die aus Sicht des Betrachters ein Ganzes ergibt und eben nicht zerlegt wird. Erst in dieser Einheit entsteht ein Bild, das viele beispielsweise dann als eine einladende oder ablehnende Atmosphäre kennzeichnen würden. Stellen Sie sich es so vor: Bevor Sie etwa ein Bild in einer Ausstellung mit ihrem Verstand erfassen, nehmen Sie die Atmosphäre des Museums und der Ausstellungspräsentation wahr; eingebettet darin entsteht bei ihnen ein alle ihre Sinne nutzendes Präsenzgefühle, das bei allen Gleichgesinnten in der Ausstellung zu einer kollektiven Emotion führt. Andere mögen sich hingegen im selben Moment fragen: Ist das Kunst oder …
Die magischen Momente sind die, bei denen diese Differenz nicht entsteht: