Als Erling Haaland, der junge Top-Stürmer der Dortmunder Borussen, das Feld nach der jüngsten Niederlage gegen Bayern München im Supercup verließ, war er, wie zu lesen stand, „richtig sauer“. Seine Kollegen schienen erkennbar weniger missmutig zu sein, sie hatten schon Schlimmeres erlebt. Und auch der sich seit über zwei Jahren im Amt befindende Trainer Lucien Favre ließ keine außergewöhnliche Verärgerung erkennen, hatte er doch selbst nach Ansicht vieler Beobachter durch zahlreiche Wechsel in der Endphase der Partie, vermutlich motiviert durch die kommenden Belastungen der Mannschaft, selber indirekt signalisiert, dieses Spiel nicht mehr zwingend gewinnen zu wollen. Der norwegische Vorzeigestürmer Haaland, noch nicht einmal ein Jahr beim BVB, sah das hingegen weniger emotionslos. Verlieren ist ihm ein Gräuel.
Nun müssen wir wissen, dass die Dortmunder auch dieses Jahr angesichts erstklassiger, wenn auch oftmals sehr junger Spieler gerne um die Meisterschaft in der höchsten deutschen Fußballklasse und andere Titel mitspielen würden.
Den Dortmundern wird immer wieder, auch und gerade in dieser erst begonnenen Saison, ein hervorstechendes Potenzial an fußballerischer Kunst attestiert. Nun werden Meisterschaften jedoch nicht danach vergeben, wie gut und erfrischend man maximal spielen kann, sondern wie häufig man gewinnt oder mindestens nicht verliert. Interessierte Beobachter vermerken die anhaltende Schwankungsbreite des Auftretens der Mannschaft, die wie in diesem Fall mit dazu beitrug, dass die Spiele, von denen man weiß, dass sie genau jetzt gewonnen werden müssen, nicht ausreichend häufig tatsächlich auch gewonnen werden – eine Blöße, die sich der seit Jahren erfolgreichere Konkurrent aus dem Süden der Republik nicht erlaubt.
Warum versagt, um es hart zu formulieren, die Dortmunder Mannschaft also zu häufig in den entscheidenden Spielen? Dies allein mit Verweis auf ungleiche finanzielle Möglichkeiten in der Kaderzusammenstellung erklären zu wollen oder gar das Schicksal zu bemühen, trifft den Kern des Problems bei Weitem nicht. Dies kann offensichtliche Verhaltensweisen auf und neben dem Platz nicht begründen:
Heranziehen kann man Aspekte wie das Auftreten, insbesondere das Zweikampfverhalten, die Mimik, Gestik und die Körperspannung, das Verlangen, jeden Ball, wie es der Tennissportler Rafael Nadal so eindrücklich vorlebt, noch erreichen zu wollen, und jedes Spiel bis zum Schlusspfiff hellwach und in der Auffassung zu spielen, es sei das für den eigenen Erfolg Entscheidende. Man müsste es sicherlich genauer analysieren und belegen, aber der Eindruck verfestigt sich schon, dass sich die rivalisierenden Teams hierin unterscheiden. Ein weiteres Indiz ist das Interviewverhalten der Spieler, was für schlechtere Ergebnisse besonders aufschlussreich ist. Hier sieht man bei den Bayern – man möge die etwas holzschnittartige, auf persönlichen Eindrücken basierende Darstellung nachsehen – sehr deutlich eine hohe Emotionalität, die regelmäßig mit selbstkritischen Einlassungen verbunden wird. Die innere Dynamik, die das Spiel bestimmte, scheint bei den Bayern-Spielern mit dem Schlusspfiff noch nicht ausgezehrt zu sein, so als könne man noch im Nachhinein das Spiel wenden, wohingegen der Konkurrent aus dem Ruhrgebiet das unerfreuliche Ergebnis bereits schneller in das Auf und Ab der Saison einzuordnen weiß und verbal kraftloser den Blick lieber gleich auf die kommenden Herausforderungen richtet. Passend dazu formuliert der Borussentrainer für die Öffentlichkeit neben sparsamen und meist rein beschreibenden Aussagen zu dem Spiel die immer wieder identische Message, dass es besser werden müsse, man sich aber nun auf das nächste Spiel zu konzentrieren habe, ggf. angereichert durch die Anmerkung, dass die Saison noch lang sei und alles im Blick zu halten sei.
Ich schließe angesichts des von mir gezeichneten Bildes auf eine entscheidende Differenz im individuellen Mindset einzelner Akteure und im kollektivenMindset, welche einerseits das Team und andererseits den Verein betrifft.
Ein Mindset ist ein Paradigma des Denkens. Hier bezieht es sich auf das Gewinnenwollen in seiner unbedingten und unteilbaren Form. Je weiter es über den Sportbereich in andere Lebensbereiche hineinragt, umso bedeutungsvoller ist es für damit korrespondierende Emotionen, Motivationen und natürlich Verhaltensweisen. Wer sich einmal die filmische Begleitung von Joshua Kimmich, einem der auffälligsten Bayernspieler, angeschaut hat, der wird das Mindset des Gewinnenwollens in prototypischer, lehrbuchartiger Form vorfinden. Mehr, möchte man sagen, geht kaum, soll – und das ist immer die Gefahr, wenn an der Grenze getanzt wird – der Spieler als Mensch noch wahrnehmbar sein und sich in einer auch für Höchstleistungen notwendigen inneren Balance befinden.
Das einfache „Gewinnenwollen“ wird jeder Fußballprofi für sich deklaratorisch in Anspruch nehmen und es als Bundesligaspieler im Vergleich zu vielen auch stärker empfinden, aber der Weg zur Verankerung als alles tragende Mindset ist weit. Erst dadurch ergeben sich aber besondere Formen der Entschlossenheit oder die Fähigkeit zur situativ passenden Selbstregulation. Ebenso die Bereitschaft zur Selbstkritik oder die Neigung, auf kurzfristige Befriedigungen zulasten eines anhaltenden Leistungsvermögens zu verzichten. Und nicht zuletzt die gelebte Selbstverständlichkeit, sich dem Team unterzuordnen und für andere im Team uneigennützig zu laufen. Ein solches Mindset schließt die Vorbereitung und Nachbereitung der Spiele mit ein, und ist mindestens in die Teile der Lebensführung eingebettet, die einen Einfluss auf den Sport haben.
Kurzum: Das Mindset bestimmt, wie man die Welt und seine eigene Rolle darin sieht. Es ist ein kognitiver Filter, der die Vorrangigkeit bestimmter Werte bestimmt, die Wahrnehmung der Dinge, die Beurteilungen und natürlich die damit verbundenen Gefühle, Antriebe und Verhaltensweisen steuert. Das „Warum“ (Ausprägung des Mindsets) und das „Wie“ (Schritte zur Umsetzung konkreter Ziele) sind idealerweise friktionslos verzahnt.
Das Mindset geht zwar vom Individuum aus bzw. ist grundsätzlich an das Individuum gebunden, kann sich aber auch durch Anschauung (Vorbildhaftigkeit), Kommunikation und ostentativer Zurschaustellung als ein kollektives Mindset innerhalb eines Teams oder, in seltenen Fällen, innerhalb eines Vereins manifestieren. Das „Gewinnenwollen“ ist dann mit dem Team oder dem Verein unverrückbar verbunden. Wer es nicht teilt oder es körperlich-spielerisch nicht umsetzen kann, besitzt in dieser Umgebung keine Zukunft. Um diesen Prozess anzustoßen, zu festigen oder fortzuentwickeln, sind, bleiben wir bei den Bayern, Aktivitäten zu fordern: Beispielsweise Einlassungen von Vorständen, die natürlich auch einmal nicht zielführend sein können, die Pflege des Mythos eines „Bayern-Gens“, das beständige Zeigen der Trophäen oder das Reden darüber, oder eben die identitätsfördernde Floskel „Mia san Mia“, die im Übrigen, wie die Süddeutsche 2013 nachzeichnete, eigentliche eine Übernahme aus der einst kämpfenden k.-u.-k. Armee des Nachbarlandes ist. Es mag deshalb kein Zufall sein, dass die hervorstechenden Köpfe in der Vereinsführung diesen Grundsatz als Spieler selbst gelebt haben, wofür der kommende starke Mann, Oliver Kahn, beispielhaft erneut prädestiniert ist. Der Verein bildet den Rahmen, in dem der einzelne Spieler und das Team agiert, und er muss eine Kultur und Struktur schaffen, in der sich ein erwünschtes Mindset herausbilden und aufrechterhalten lässt. Und das muss sich vom Nachwuchszentrum, über die Spielerauswahl bis hin zu den Entscheidungen über Vertragsverlängerungen sichtbar zeigen.
Erst aus diesem Mindset heraus entwickelt sich auf nächstniedriger Stufe eine, sagen wir „Haltung“, die das Gewinnenwollen als eine bewusst getroffene Entscheidung versteht, die, einmal für sich getroffen, kein Kompromisse mehr akzeptieren kann und beständig zur eigenen Selbstvergewisserung, aber auch zur Mahnung, wie eine Monstranz vor sich hergetragen wird.
Diese Haltung ist also nur dann eine Haltung, wenn sie unhinterfragbar verinnerlicht ist. Sie beeinflusst alles andere. Das Besondere: sie ist im sportlichen Bereich unteilbar und unterliegt keiner Kalkulation. Von den Bayern hört man, dass selbst bei Trainingsspielen untereinander gewonnen werden will und dass bei Pflichtspielen nicht einfach nur gewonnen werden will, sondern dass maximal hoch gewonnen werden will, also der nächste Treffer immer erreicht werden will, auch wenn das Spiel schon in einen sicheren Hafen gebracht wurde. Man kann hiervon nicht ablassen, weil das Mindset so ausgerichtet ist. Man will es auch gar nicht. Und das Gewinnenwollen ist, verfolgt man öffentliche Äußerungen, dann nicht nur ein „rationales“ Gewinnenwollen, sondern ein sinnliches Gewinnenwollen, dass die Schönheit des Spiels mitintegriert, ebenso seinen Unterhaltungswert, und dadurch das Gewinnwollen umfänglich sieht, wie man es nur kann, wenn es das Denken, und parallel dazu die Emotionen und Achtung erst jetzt: den Willen durchzieht.
In dem Moment, wo das Gewinnenwollen vom konkreten Spiel einer Gesamtstrategie des Erfolgs geopfert wird, wird das Mindset des Gewinnenwollens unterlaufen, wird ein falsches Signal gesendet. Werden in einem Spiel von immenser Bedeutung – geht es gar gegen den stärksten Konkurrenten – Spielerwechsel vollzogen, die bereits auf das nächste, vermeintlich wichtigere Spiel ausgerichtet sind, ist das der Haltung eines Gewinnenwollens abträglich, denn sie wird damit zu einer Kalkulation und verliert ihren unbedingten Charakter. Sie wird plötzlich zu einer Verhandlungsmasse für das Große und Ganze, verkennt aber dabei, dass das Große und Ganze nur erreicht werden kann, wenn jede Konkretisierung dort hin, so wie es jedes einzelne Spiel ist, ihr unterworfen ist. Das Große und Ganze wiederum, also die Meisterschaft, die Maximierung der Trophäen etc., wird durch eine Haltung erreicht, die täglich gefestigt und nicht aufgeweicht werden darf. Ein Gewinnenwollen ist nicht verhandelbar.
Dabei ist daran zu erinnern, dass das Mindset, es schimmerte hier bereits durch, zwei Ausformungen kennt, denen jeweils unterschiedliche Gehirnregionen dominant zugeordnet sind, ein abstraktes und ein konkretes Mindset. Das abstrakte ist das Gewinnenwollen, das konkrete ihr Realisiserungsprogramm, nehmen wir dafür einmal die maximale körperliche Fitness, herbeigeführt durch Extra-Trainingseinheiten auch außerhalb von Team und Verein.
Mir scheint aus der Ferne, dass die Bedeutung und Unteilbarkeit des Mindsets bei den Dortmundern noch nicht hinreichend angekommen ist. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass ein Mindset zwar in seiner Ausprägung, um den Namen zu verdienen, stabil, aber perspektivisch veränderbar ist. Die Diskussion zum Growth Mindset zeigt dies deutlich, auch die Voraussetzungen dafür. Jürgen Klopp hat die Entwicklungsfähigkeit eines Mindsets in seinen drei letzten Trainerstationen demonstriert. Angewandte positive Psychologie. Dass ein solches Mindset über die Jahre energieraubend sein kann, weil es mentale wie körperliche Ressourcen bindet, ist zu beachten. Erschöpfungszustände sind nicht auszuschließen, vor allem wenn die Erholungspausen zu kurz sind und der Geist keinen Gefallen mehr an anderem finden kann. Die Lebensbalance geht verloren und der ehemalige Zustand wird schlechtestenfalls nie mehr zu erreichen sein.
Ja, der Trainer. Noch ein paar Worte zu ihm. Ihm kommt keine alleinige, aber eine besondere Funktion in der Entwicklung des unbedingten, unteilbaren „Gewinnenwollens“ zu. Ein diesbezüglicher Ausfall ist nicht zu kompensieren, egal wie technisch brillant er das Spiel versteht. Letzteres ist ein rein rationales Vermögen und reicht dort, wo es um den Unterschied auf höchstem Niveau ankommt, nicht aus. Emotionen setzen über hormonelle Beteiligungen ungeahnte Kräfte frei, was ein Zuruf für eine Rotation während des Spiels nicht leistet, der natürlich auch seine Berechtigung besitzt. Wer führen möchte und keinen Unterschied bewirkt, führt nicht und verschenkt damit das Potenzial dieser Schlüsselposition. Und bedenke: Es kommt bei der Führung immer darauf an, wie sie von denen, die geführt werden sollen, aufgenommen wird, und nicht wie derjenige, der meint, zu führen, es sieht. Das ist im Sport nicht anders als im Unternehmen oder in der Politik.
Fazit: Das Mindset ist der Master Key zum Erfolg. Sofern sich der BVB nicht noch stärker in das Mindset eines „Gewinnenwollens“ hineinentwickelt, vielleicht müsste man sogar formulieren: transformiert, wird er vor allem deshalb keine dauerhafte Gleichwertigkeit mit den Bayern erreichen können – es sei denn, dort passierte eine Erosion. Dies ist aber keine Option, die in Dortmund irgendjemanden interessieren müsste. Der Gewinner im Leistungssport setzt nämlich immer bei sich selbst an. Alles andere ergibt sich.