Erfahrung ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich positiv besetzt. Das ist wie mit dem Lernen. Wer lernt, erhöht seine Problemlösungskompetenz und ist für die sich ändernden An- und Herausforderungen besser gerüstet. Erfahrung ist das Produkt solcher Lernprozesse.

Entsprechend kann es nicht überraschen, dass auch die Führungserfahrung hoch gehandelt wird. Wie aber drückt sie sich in der Führungspraxis aus? Eine erste Annäherung ist die über das Lebensalter – dies insbesondere dann, wenn keine weiteren Informationen über die Person vorliegen  (siehe dazu auch: Die wissenschaftliche Studie: Jüngere Führungskräfte).

Hiermit geben sich Organisationen allerdings nicht zufrieden. In Stellenanzeigen verbinden sie Führungserfahrung meist mit dem Innehaben einer Führungsposition über eine bestimmte Anzahl von Jahren, dies gegebenenfalls in einer bestimmten Branche oder Funktion sowie mitunter auch unter Verweis auf  eine bestimmte Anzahl unterstellter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Dies hört sich vernünftig an. Ist es das aber auch?

Eigenschaftstheorie der Führung

Führungserfahrung

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Wenn wir unsere Frage führungstheoretisch einordnen, sind wir sogleich inmitten der bekanntesten Theorie, der Eigenschaftstheorie der Führung.  Eigenschaften sind danach biologische oder psychologische Charakteristika, die bestimmte Ausformungen aufweisen müssen, um aussagefähig zu sein. Die meisten führungsrelevanten Eigenschaften können den drei übergeordneten Kategorien

  • Demografia (z.B. Geschlecht, Größe, Alter),
  • aufgabenbezogene Eigenschaften (z.B. Intelligenz, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität) und
  • beziehungsbezogenen Eigenschaften (z.B. Extraversion, Verträglichkeit, Kommunikationsfähigkeit)

zugeordnet werden. Motive, wie die grundlegende „motivation to lead“, treten hinzu.

Und die Führungserfahrung? Sie wird mit der Eigenschaftstheorie quasi antithetisch verbunden. D.h., es wird nicht auf die Genetik oder die sehr frühe Prägung, sondern auf das im Zweifel lebenslange Lernen abgestellt. Führungserfahrung ist in diesem Sinne etwas, was man im Laufe seines Lebens erwirbt. Damit kann es der Sozialisation zugeordnet werden. Und schon sind wir bei dem alten, allerdings nur begrenzt fruchtbaren Kampf innerhalb der Führungsforschung: Sind es die Eigenschaften („Führungsgen“) oder ist es die Umwelt (hier: Führungserfahrungen), die für Führungspositionen (prä-)destinieren?

Potenzialanalyse zur Feststellung der Führungseignung

Die Wirtschaftspsychologen Uwe Peter Kanning und Philipp Fricke haben mit ihrer Studie (n=814 Personen) einen wichtigen Beitrag zur weiteren Erhellung dieses „Klassikers“ geliefert. Sie stellten sich die Frage, ob Personen mit Führungserfahrung (66,2 %) in einer Potenzialanalyse zur Feststellung der Führungseignung positiver abschneiden als Personen ohne Führungserfahrung (33,8 %). Von Interesse war auch, ob die Anzahl der bislang geführten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich positiv auf das Ergebnis der Potenzialanalyse auswirken würde und ob das Lebensalter hiermit in Verbindung zu bringen war.

Potenzialanalyse und Kompetenzbereiche

Eine Potenzialanalyse verfolgt allgemein das Ziel, die Befähigung und Bereitschaft einer Person zur Übernahme einer Position zu bestimmen, die über die Anforderungen seiner jetzigen Position hinausreicht. Im vorliegenden Fall bezog sich die Potenzialanalyse auf neun Kompetenzbereiche, unter anderem auf Entscheidungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Selbstreflektion, Überzeugungsfähigkeit und Führungsfähigkeit.

Führungserfahrung hat keinen relevanten Einfluss

Die Ergebnisse der mithilfe statistischer Verfahren durchgeführten Analyse wirken auf den ersten Blick ernüchternd: Die Führungserfahrung besaß keinen relevanten Einfluss. Für die Anzahl der unterstellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ließ sich in keinem einzigen Fall ein signifikanter Zusammenhang ermitteln. Das Lebensalter besaß ebenfalls keinen positiven Einfluss, doch je höher das Lebensalter war, desto schlechter schnitten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem Umfang zwischen 0,8 und 5,3 % der Leistung in den Kompetenzbereichen der Potenzialanalyse ab.

Frauen schneiden etwas besser ab

Zudem, dies interessiert an dieser Stelle aber nur am Rande, waren Frauen den Männern in allen 9 Kompetenzdimensionen und damit auch bei der Führungsfähigkeit überlegen, auch wenn die absoluten Unterschiede sehr klein sind. Bedeutsamer scheint im Umkehrschluss der an anderer Stelle bereits dokumentierte Befund zu sein (siehe: Frauen als Fremdkörper im Management?), dass die Geschlechterkomponente bei der faktischen Leistungsfähigkeit in Führungsfragen keine relevante Größe ist.

Erfahrungsinhalte sind für die Führungseffektivität entscheidend

In meinem Werk „Personalführung“ (2016) findet sich folgender Satz:

„Der Einfluss von Alter und Führungserfahrung auf die Führungseffektivität ist im Einzelfall immer noch wichtig, über alle Situationen hinweg als rein numerische Führungserfahrung wohl eher gering; wichtiger sind die Erfahrungsinhalte.“

Die Crux mit der Führungserfahrung

Damit ist gleichsam der Kern des Zusammenhanges formuliert: Führungserfahrung per se ist nicht aussagefähig!

So formulieren auch die Autoren der Studie: „Die Ergebnisse … sprechen eindeutig gegen die Annahme, dass bloße Erfahrung, sei es nun speziell Führungserfahrung oder allgemeine Lebenserfahrung, automatisch mit Zuwächsen bei den führungsrelevanten Kompetenzen einhergeht“ (S. 53)

Warum ist das so? Ganz einfach. Sich in eine bestimmte Situation zu begeben, heißt noch nicht zwangsläufig, aus dieser Situation die richtigen Rückschlüsse zu ziehen, um seine Einstellungen oder sein Verhalten zu verbessern. Viele Personen begehen immer wieder dieselben Fehler oder haben schlicht kein Interesse daran, dass ihnen neu Gebotene neugierig aufzunehmen und mit ihrem bisherigen Erfahrungsschatz zu verzahnen. Dies geschieht aus Ignoranz, aus Unwilligkeit oder aus falsch verstandenem Selbstschutz.

Die Verarbeitung von negativen Erfahrungen fördert Führungserfahrung

Wir wissen beispielsweise aus Studien zur Authentizitätsforschung (Weischer/Weibler/Petersen 2014): Es sind gerade die negativen Erfahrungen (ein misslungenes wichtiges Projekt, Kündigung einer geschätzten Mitarbeiterin), von denen man durch gelungene Bewältigung besonders profitieren kann. Dort entsteht dann  persönliches Wachstum und Reife im Besonderen. Davon wollen leider manche Führungskräfte nichts hören.

Führungserfahrung und Personalauswahl

Man wird den Autoren dieser Studie deshalb Recht geben müssen bei ihrer Folgerung, dass Bewerberinnen und Bewerber mit numerisch reichhaltiger Führungserfahrung nicht automatisch jenen mit weniger oder gar keiner Führungserfahrung vorzuziehen seien. Dies gilt bereits bei der Analyse des Lebenslaufes. Konsequenz: Man sollte die Führungserfahrung in den Stellenausschreibungen entweder nicht besonders thematisieren oder aber deutlich spezifizieren. Im Interview ist sie mit Blick auf die jetzige Anforderung genau zu analysieren.

Führungserfahrung und Personalentwicklung

Schließlich ist der Folgerung der Autoren zuzustimmen, dass umfangreiche Maßnahmen zur Personalentwicklung, die als Synonym für den Erwerb von Erfahrungen stehen, nicht mit wirklicher Erfahrung gleichgesetzt werden können. Denn ohne nähere Prüfung ist nicht zu bestimmen, ob die Chance zum Lernen auch tatsächlich genutzt wurde.

Wir haben verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das Führungs-Controlling in deutschen Unternehmen ein Schattendasein führt. Fast immer wird eher der Entertainmentfaktor einer Veranstaltung als die tatsächliche arbeitsbezogene Wirkung gemessen. Es fehlt leider an Wissen und an der Bereitschaft, ein Führungs-Controlling konsequent zu implementieren. Zugegeben: Dies ist eine sehr diffizile Thematik, die nie in Gänze befriedigen wird; sie könnte gleichwohl besser angegangen werden, als wir es heute beobachten.

Führungserfahrung – Was bleibt?

Die Ergebnisse sollen nicht den Blick dafür verstellen, dass Führungserfahrung eine herausragende Bedeutung für die Effektivität und Effizienz von Führung besitzt. Aber dazu muss sie eine Bedingung erfüllen:

Die Führungserfahrung muss nachweisbar nützlich zur Bewältigung der anstehenden Führungsaufgabe sein!

Um dies herauszufinden, muss man sehr genau hinschauen. Zudem ist stets im Einzelfall zu entscheiden, welchen Stellenwert sie im Vergleich zu anderen Anforderungen für die Position besitzt. Für kommende und junge Führungskräfte sind die empirischen Befunde alles in allem natürlich eine gute Nachricht.

Kanning, U.P./Fricke, P. (2013): Führungserfahrung: Wie nützlich ist sie wirklich? In: Personalführung, Heft 1, S. 48-53

Weibler, J. (2016): Personalführung, 3. Auflage, München

Weischer, A.E./Weibler, J./Petersen, M. (2014): „To thine own self be true”: The effects of enactment and life storytelling on perceived leader authenticity. In: The Leadership Quarterly, 24(4), 477-495