Stefan Stenzel war 2001 Pionier und letztlich Verantwortlicher für externe Coaching Services bei der SAP SE bis 2008 bzw. ist seit 2013 global und unternehmensweit Ansprechpartner für das externe Coaching. Er arbeitet parallel als Projekt- und Portfolio-Manager in der globalen Führungskräfteentwicklung und ist als unternehmensinterner und –externer Coach tätig. Er ist Trainer, Moderator, Referent in der Führungskräfteentwicklung und Autor verschiedener Artikel zum internen und externen Coaching. 2004 war er erweitertes Gründungsmitglied bzw. erster Unternehmensvertreter im Deutschen Bundesverbands Coaching e.V. (DBVC). Nähere Informationen finden sich auf seiner Webpage.
Leadership Insiders: Lieber Herr Stenzel, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, um über Leadership und Coaching bei der SAP SE zu sprechen. Mit über 20 Jahren Erfahrung bei SAP: Haben Sie nie den Wunsch nach einer Veränderung verspürt?
Stefan Stenzel: Zunächst vielen Dank für die Einladung! Ja, manche sind der Meinung, dass SAP nur ein weiteres Unternehmen ist, aber ich sehe es natürlich als das beste und spannendste Unternehmen in Deutschland an. Bei SAP gibt es permanent Veränderungen. In den letzten 22 Jahren hatte ich schätzungsweise acht verschiedene Führungskräfte und mehrere Arbeitsdirektor:innen und in der Folge auch mehr als eine Reorganisationen erlebt. So steht auch im kommenden Jahre Veränderung an, da wir Ende 2023 mit dem Ausscheiden von Sabine Bendiek eine neuen Chief Human Resources Officer (CHRO; Gina Vargiu-Breuer) bekommen werden, was bedeutet, dass sich HR erneut verändern wird. Agilität, wie sie heute im Kontext von „New Work“ diskutiert wird, war bei uns schon immer ein wichtiger Faktor und wird jetzt nur noch stärker betont. Wir haben seit ca. drei Jahren sogar eine eigene Abteilung „Future of Work“. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob wir immer vor lauter „Agilität“ die „lessons learned“ – dem Ursprungskonzept der „Lernenden Organisation“ entsprechend – auch immer nachhaltig genug befolgt haben. Zumindest kommt so bei der Arbeit bei SAP keine Langeweile auf bzw. es ist und bleibt spannend und dynamisch. Das muss man natürlich auch mögen!
Leadership Insiders: Hat sich denn die Kultur bzw. Struktur bei SAP auch in Zeiten von „New Work“ verändert? Denken wir beispielsweise an persönliche Ansprachen oder flachere Hierarchien.
Stefan Stenzel: SAP war schon immer ein eher informelles Unternehmen mit vielen Freiheiten und Selbstverantwortung. Wir haben seit der Gründung von 1972 eine Du-Kultur, und Beschäftigte können bei wichtigen Anliegen und gut begründet auch Hierarchien überspringen. Wir haben also zumindest keine festen mentalen Hierarchien. Dafür sprechen z.B. fehlende, auch die (zum Teil mehrfachen!) akademischen Dr.-Titel an den Türschildern der Mitarbeiter:innen. Organisatorische Strukturen sind daher nur von bedingtem Wert, da unser Geschäft eben sehr dynamisch ist. Die gelebte Organisationsform, die auf dem Papier steht, entspricht – wie in vielen Unternehmen – also nur bedingt der gelebten Realität – was es für Einsteiger bei SAP allerdings nicht einfach macht. Natürlich haben wir auch Organigramme, aber tatsächlich leben wir eine eher informelle Struktur, und ein breites informelles Netzwerk ist bei SAP als Mitarbeitender überlebenswichtig. Wenn es erforderlich ist, kann eine eher hierarchische Führung jedoch nach wie vor gerechtfertigt sein. Dennoch müssen Entscheidungen bei uns selbst, wenn sie „von oben“ kommen, sorgfältig begründet werden, um Akzeptanz zu finden. Entscheidungen, die rein aus einer Machtposition getroffen werden, kommen bei der Belegschaft nicht gut an.
Leadership Insiders: Das klingt so, als wenn bei SAP jeder Beschäftigte führen kann?
Stefan Stenzel: Wenn wir bei SAP über Führung sprechen, bedeutet dies tatsächlich, dass jeder zumindest den Willen haben sollte, „in Führung zu gehen“, auch ohne eine formale Führungsposition innezuhaben. Du benötigst keine offizielle Manager-Position, um zu einem Thema oder Menschen zu „führen“. Du kannst dich aktiv einbringen, Initiativen vorantreiben und unternehmerisches Denken zeigen. Leadership ist nicht allein an formale Positionen gebunden. Bei uns fördern wir informelle Leadership, die nicht auf formale Hierarchien beschränkt ist. Tatsächlich haben wir ein Programm namens “ Aspiring Leaders“, das von großer Bedeutung ist. Es ermutigt dazu, das eigene Thema voranzutreiben und sich möglichst früh vom Mindset wie eine Führungskraft zu verhalten – „die Kraft, etwas anzuführen/voranzubringen“, zu zeigen.
Leadership Insiders: Haben Sie ein anschauliches Beispiel aus Ihrem Unternehmen für uns? Oder besser gleich zwei? Einmal für eine Problemlösung, die typischerweise woanders hierarchisch angegangen wäre und einmal dazu, wie sich eine jüngere Person ein Thema ohne formale Kompetenz dafür so zu eigen macht, dass er oder sie andere dafür begeistert?
Stefan Stenzel: Ganz im „luftleeren Raum“ werden Entscheidungen bei uns natürlich auch nicht getroffen. Sobald die Idee an finanzielle Investitionen gekoppelt ist, braucht es zumindest die Zustimmung der Geldgeber:in! Das wohl prominenteste Beispiel eines „grass-root-approaches“ ist unser internes Coaching-Programm, welches 2003 von einem Mitarbeiter ins Leben gerufen wurde und welches heute den Mitarbeiter global ca. 600 Coaches zur Auswahl stellt. Ein Beispiel für eine „jüngere Person“ wäre eine Neueinsteigerin in unserem Bereich, die nach intensiver Beschäftigung mit verschiedenen Projektmanagement-Tools dafür gesorgt hat, dass wir nun alle mit nur einem Tool arbeiten.
Leadership Insiders: Sie gelten als eine Person, die sich mit Offenheit, Interesse und einem breiten Wissens- und Erfahrungsschatz mit aktuellen HR-Themen praktisch und wissenschaftlich auseinandersetzt. Dazu passt, dass Sie Ende 2022 im Springer Verlag ein Buch mit dem Titel: „Die Zukunft des Coaching Business – Neuausrichtung an der Lebens- und Arbeitswelt des Klienten von morgen“ veröffentlicht haben. Vielleicht geben Sie uns ein paar Einblicke in das Buch.
Stefan Stenzel: Das Thema Coaching hat in den letzten Jahren im Zuge krisenhafter Entwicklungen wie etwa der Corona-Krise mit den damit verbundenen psychologischen Auswirkungen bzw. der „Arbeit/Industrie 4.0“ bzw. „Future of Work“ sowohl in Unternehmen wie gesamtgesellschaftlich mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Zudem rücken die Themen Selbstentwicklung, Potenzialentfaltung und Lernen verstärkt in den Fokus. Alleine bei SAP haben wir global um die 600 interne Coaches, die besonders die individuelle Entwicklung unterstützen. Das Buch ist daher aus meiner Sicht für eine breite Leserschaft von Coaches, über Führungskräfte, HR-ler bis hin zu (potenziellen) Kund:innen geeignet. Auch der Untertitel des Buches macht deutlich: Es geht um die Neuausrichtung von Coaching an die Lebens- und Arbeitswelt des Klienten der Zukunft, und hier sind viele Akteure betroffen und können mitgestalten.
Leadership Insiders: Wenn man ins Inhaltsverzeichnis schaut, werden verschiedenste Entwicklungen angesprochen, wie etwa der demographische Wandel, die zunehmende Diversität, der Wandel des Lernens bzw. des Verständnisses von Karriere und die Digitalisierung. Stichworte sind hier: Chatbots, Wearables, Big Data. Wo liegen hier die Folgen für Coaching und Leadership?
Stefan Stenzel: Vom Grundansatz her verfolgt das Buch das Mindset und die Herangehensweise eines klassischen Produktentwicklers. Coaching ist in gewissem Sinne ein Produkt oder, genauer gesagt, Service. D.h. welche Trends und Entwicklungen in der Außenwelt beeinflussen mein Produkt? Was sind die Bedarfe und Präferenzen der Kunden:innen, z.B. der nun bald ins Berufsleben einsteigenden „Gen Z“? Und wie passe ich dann mein Produkt Coaching an? Coaching hat dies jahrzehntelang jedoch bisher nicht gemacht. So führte zum Beispiel erst COVID-19 für das online-Coaching zu einem Wendepunkt.
Damit spreche ich natürlich auch zentrale Entwicklungen an, denen sich nicht zuletzt Unternehmen wie SAP stellen müssen. Zum einen der demografische Wandel. Also, wenn mein Sohn in ca. 2 Jahren in die Arbeitswelt eintritt, wird er unter ganz anderen Bedingungen starten als ich damals. Früher haben sich auf eine Stelle 50 Leute beworben. Auf die Stelle, auf die er sich vielleicht bewerben wird, werden sich womöglich maximal 10 bewerben. Schon allein die Demografie wird dazu führen, dass Menschen, die in den nächsten Jahren in den Arbeitsprozess eintreten, ganz andere Bedingungen vorfinden.
Zum anderen das Thema Diversität: Menschen aus anderen Kulturen müssen verstärkt integriert und qualifiziert werden. Das bedeutet aber auch für Coaches und Führungskräfte, dass Englisch bereits zum Standard gehören muss, da die meisten Migranten eben sonst keine Fremdsprachenkenntnisse haben. Und damit verbunden wächst auch die Anforderung, sich auf verschiedene Kulturen einstellen zu können – und dies auch zunehmend virtuell. Das konnte man auch bei SAP über die letzten 10-15 Jahre sehr gut beobachten. International virtuell coachen und auch interkulturell führen zu können, ist etwas ganz anderes, als physisch vor Ort zu sein. Virtuelles Coachen und interkulturelles Führen fordert Coaches und Führungskräfte auf ganz andere Weise heraus.
Leadership Insiders: Und nun zur Digitalisierung.
Stefan Stenzel: Richtig. Eines der Kernthemen in dem Trendkaleidoskop des Buches ist natürlich die Digitalisierung. Die Digitalisierung hat bereits in den letzten Jahren unsere Lebens- und Arbeitswelt grundlegend verändert. Dies hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Coaching angeboten wird und wie Coaches ihre Dienstleistungen anbieten. Es gibt eine Vielzahl von Entwicklungen, die diesen Wandel vorantreiben. Plattformbasierte Digitale Coaching-Anbieter sind in den Vordergrund gerückt. Diese Plattformen bieten eine bequeme Möglichkeit für Menschen, Unterstützung und Beratung in verschiedenen Lebensbereichen zu suchen, sei es persönliche Entwicklung, berufliche Weiterentwicklung oder psychische Gesundheit. Eine der auffälligsten Veränderungen betrifft die Kaufgewohnheiten der Kund:innen im Zusammenhang mit Dienstleistungen der nächsten Generation. So sind es nicht nur jüngere Kund:innen mittlerweile gewohnt, fast alles online zu erledigen. Diese Erwartungshaltung hat sich auch auf Coaching-Dienstleistungen ausgeweitet. Kund:innen erwarten bequeme Online-Zugriffsmöglichkeiten, flexible Terminplanung und eine schnelle, unkomplizierte Abwicklung. Im Extrem „Coaching-to-Go“ – d.h. ein sehr stark bedarfs- bzw. situationsgetriebener Sparring für eine halbe Stunde oder Stunde. Eine weitere wichtige Veränderung betrifft die Art und Weise, wie Coaching selbst durchgeführt wird. Online-Tools wie Videokonferenzen, Messaging-Apps und virtuelle Whiteboards ermöglichen es Coaches, mit ihren Kund:innen in Kontakt zu bleiben und effektive Sitzungen abzuhalten, ohne physisch anwesend zu sein. Die immer komfortabler und leichter werdenden VR-Brillen ermöglichen Sessions im virtuellen Raum oder Verhaltenssimulationen, in denen durch ChatGPT bereits sehr natürliche Dialoge möglich sind bzw. automatisch analysiert werden. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für zeitliche und räumliche Flexibilität und erweitert den Zugang zu Coaching-Dienstleistungen.
Leadership Insiders: Dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht bleibt demnach nichts mehr vorbehalten?
Stefan Stenzel: Natürlich nicht! Es würde meiner Einschätzung aber immer hybrider. Beides hat seinen Stellenwert – beides hat Vor- und Nachteile. Die Professionalität des Coaches wird darin bestehen, es in Absprache mit dem Klienten bei Bedarf sinnvoll zu kombinieren. Aus diesem Grund sehe ich als eine der zukünftigen Rollen des Coaches in der eines „Wanderführers“ zwischen der realen und den vielfältigen virtuellen (Lern-)Welten.
Leadership Insiders: Jetzt haben wir schon über Leadership und Coaching als zwei getrennte Bereiche gesprochen. Wie sehen Sie die zunehmende stärkere Verzahnung von Coaching und Leadership, insbesondere im Kontext der sich wandelnden Arbeitswelt? Glauben Sie, dass Führungskräfte heute einen Coach-Mindset entwickeln sollten?
Stefan Stenzel: Bei SAP gibt es keinen expliziten Ansatz, der vorsieht, dass Führungskräfte in der Rolle eines Coaches auftreten sollen. Wenn jedoch der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin bereit sind und eine gute Beziehung besteht, kann die Führungskraft in gewissem Maße „coachen“. Das von uns herangezogene Modell für diesen „Coach-Mindset“, das eines „entwicklungsorientierten Führens“, ist das des „Multipliers“ (vs. Diminishers) von Liz Wiseman. Der Untertitel des Buches „How the Best Leaders Make Everyone Smarter“ beschreibt dabei sehr schön, worum es uns bei uns beim „Manager als Coach“ geht. Generell ist es wichtig zu beachten, dass dies immer noch eine Geschäftsbeziehung ist, und die Führungskräfte auch die organisatorischen Ziele im Auge behalten müssen, da sie beispielsweise Boni verdienen wollen. Manager vertreten die Unternehmensziele, und individuelle Vorstellungen können nur begrenzt umgesetzt werden. Es gibt bei SAP kein spezielles Programm, das Führungskräfte zu Coaches i.e.S. macht. Stattdessen geht es darum, dass Führungskräfte ihre Rolle verstehen und erkennen, dass sie Organisationsziele nicht alleine erreichen können – dass Ihre große Fachexpertise nun im orchestrieren von Solisten bzw. Spezialisten besteht und diese im Idealfall den „Dirigenten“ menschlich und fachlich schätzen müssen. Daher ist es einfacher, wenn ein natürliches Followership und eine menschliche, von Vertrauen geprägte Bindung zwischen Mitarbeitern und Führungskraft besteht – und diese entsteht mit größerer Wahrscheinlichkeit, wenn die Manager:in i.S. des Untertitels des Wiseman-Buches agiert. Hier kann eine Coaching-Grundhaltung als Orientierung natürlich hilfreich sein. Jedoch sollte Coaching als Entwicklungsmethode auch nicht überbewertet werden. Neben Coaching gibt es andere, zielführende Ansätze wie Mentoring, Shadowing und natürlich auch die klassischen Schulungen, die manchmal effektiver sein können als Coaching. Coaching ist also nicht die universelle Lösung – es kommt immer auf die zielbezogene, individuelle Zusammenstellung des Lernmixes („blended learning“) an, die auch die Rahmenbedingung des Managenden (eigene Vorgesetze, Team, Erfahrung et.) berücksichtigt.
Leadership Insiders: Die Forderung, dass Führungskräfte verstärkt coachen sollen, zielt also mehr auf die Grundhaltung eines Coaches ab: Potenziale erkennen und freisetzen, Lernen fördern etc. In dem Zusammenhang kommen natürlich dann auch verstärkt persönliche Themen auf den Tisch. Welche Herausforderungen und Hindernisse sehen Sie in diesem Zusammenhang?
Stefan Stenzel: Ein nicht unerhebliches Hindernis oder gar ein Widerspruch besteht darin, dass Unternehmen zum einen zunehmend dynamischer agieren wollen und Mitarbeit:innen in ihren kühnsten Träumen – und damit der Realität in den USA folgend – je nach Bedarf einstellen und entlassen wollen, was eine „Hire and Fire-Mentalität“ verlangte. Gleichzeitig wächst jedoch der Wunsch und auch die Notwendigkeit nach persönlicher Nähe und Unterstützung, was zu einem inneren Konflikt führt. Diese veränderten Rahmenbedingungen haben tiefgreifende Auswirkungen, und es wird zukünftig meiner Einschätzung nach immer seltener, dass Mitarbeit:innen wie ich über einen Zeitraum von 20 Jahren in demselben Unternehmen bleiben. Dieses neu zu entwickelnde Verständnis von „Karrieren“ wird sich vermutlich zunehmend auch unabhängig von einem spezifischen Arbeitgeber herauskristallisieren müssen, und es liegt in der Eigenverantwortung eines jeden Mitarbeiters (als „Ich AG“ – ein Begriff aus den 90igern), unterstützt möglicherweise durch einen Coach, diese Karriere voranzutreiben. Deshalb habe ich im Buch dem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet.
Leadership Insiders: Führungskräfte müssen also in einem Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz navigieren?
Stefan Stenzel: Ja, genau. Unternehmen müssen in der globalen, schnelllebigen VUCA-Welt immer flexibler werden. In den 90er Jahren gab es den Begriff des „atmenden Unternehmens“, das eine kleine Kernmannschaft und eine flexible Mitarbeiterschaft hat, die bedarfsgerechte Arbeitsverträge hat. Dieser Ansatz hat sich weiterentwickelt, und SAP hat dazu vor einigen Jahren sogar ein Softwareunternehmen erworben. Die Software mit dem Namen „SAP Fieldglass“ hilft die sogenannte „fluide“ Mitarbeiterschaft bzw. „contingent worker“ (und ggf. deren Vermittler) vom Anwerben bis zum Ausscheiden zu organisieren. Die dabei geforderte Selbstentwicklung spielt in diesem Kontext eine zentrale Rolle und bringt natürlicherweise Vor- und Nachteile mit sich. Einerseits ermöglicht sie mehr Autonomie und Unabhängigkeit, andererseits besteht die Gefahr, dass das Wir-Gefühl (der Heteronomie) vernachlässigt wird, obwohl es eigentlich gefordert wird. Hierin liegt ein weiteres Dilemma. In einer Zeit, in der Individualisierung und Einzigartigkeit „in“ ist, müssen wir gleichzeitig effektiv in Teams arbeiten, was zu weiteren Dilemmata führt. Dies verdeutlicht die Komplexität und die Herausforderungen, mit denen Unternehmen und Führungskräfte konfrontiert sind. In meinem eklektischen Modell des „Ambidextrie Triplett der Führung“ habe ich versucht, diese vielfältigen Dilemmata für die Manager zu integrieren. Für die Coaches habe ich komplementär das Ambidextrie Triplett des Coaching“ entwickelt.
Leadership Insiders: Welche Kompetenzen brauchen dann gute Führungskräfte in der heutigen Zeit, auch um mit diesen Dilemmata umgehen zu können?
Stefan Stenzel: Emotionale Kompetenz, die Fähigkeit zuzuhören und auf Menschen einzugehen, war schon immer wichtig, gewinnt jedoch in einer zunehmend von Technik und Virtualität beeinflussten Welt an Bedeutung. So ist es entscheidend, auch in der virtuellen Welt eine Verbindung zu den Mitarbeite:innen herstellen zu können, insbesondere zu denen, die man selten persönlich sieht. Das Schaffen von Vertrauen und Bindungen, ohne die Person physisch zu treffen, ist eine neue Herausforderung. Ein früherer Vorgesetzter hat mir einmal gesagt: „Man muss Menschen mögen“, um Führen zu können. Dieser Gedanke, dass man die Menschen nicht nur als Instrumente für die eigene Zielerreichung und Karriere betrachtet, sondern daran arbeitet, ihre Kompetenzen weiterzuentwickeln, spiegelt für mich den „Coach-Mindset“ wider, der bei uns in den bereits erwähnten „Multiplier-Mindset“ transformiert wurde.
Es geht also darum, effektive Beziehungen zu gestalten und sich in einem Gespräch wirklich auf die Gesprächspartnerinnen und -partner zu konzentrieren, was vielen aufgrund von Ablenkungen, insbesondere durch Smartphones, schwerfällt. Die Fähigkeit zum Ausdruck von Wertschätzung ist hierbei von großer Bedeutung. Führungskräfte sollten darüber hinaus ein klares Verständnis dafür haben, was ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tatsächlich tun, was allein schon von großem Wert ist, insbesondere in einer virtuellen Arbeitswelt.
Darüber hinaus sollten Führungskräfte in der Lage sein, detailliertes Feedback zu geben. Dies bedeutet, dass sie sich mit der Arbeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auseinandersetzen müssen. Dies erfordert Zeit und den Willen, sich für andere zu engagieren und Feedback auf der Grundlage von genauer Beobachtung zu geben. Dazu gehören das Zuhören, Beobachten, Reflektieren und das Geben von konstruktivem Feedback – und das benötigt Zeit!
Leadership Insiders: Hat SAP denn gewisse Rahmenbedingungen wie etwa Führungsgrundsätze etabliert, die hier gewisse Vorgaben für Führungskräfte in diese Richtung machen?
Stefan Stenzel: Wir verfügen über Richtlinien für das Führungsverhalten, die sich vom Ansatz her von den traditionellen Führungsgrundsätzen etwas unterscheiden. Sie sind eher „Überzeugungen“; Glaubensätze“ bzw. „Credos“ – „Leadership Credos“. Man könnte sie daher auch als Forderungen für spezielle Mindsets sehen. Sie sind eher im Sinne von Forderungen formuliert, wie „Be agile“, „Be ethical“, „Be inklusive“, „Be accountable“ oder die Strategie betreffend: „Bring our strategy to life“. Diese Richtlinien dienen als Verhaltensleitfaden und die Überschrift, die den gesamten Ansatz zusammenfasst, lautet:
„Do what´s Right.“
Dadurch ermutigen wir dazu, letztlich immer den gesunden Menschenverstand zu nutzen und aus eigenem Ermessen das Richtige im Sinne der Organisation zu tun, denn keine Leitlinien können alle schwierigen Situationen abbilden können
Leadership Insiders: Also eine Art praktische Weisheit. Wie gewährleisten Sie, dass diese Richtlinien eingehalten werden?
Stefan Stenzel: Das zentrale Führungsprinzip ist bei uns Vertrauen, und daran werden u.a. die Führungskräfte mit dem sogenannten NPS („Net Promoter Score“) gemessen. Er besteht nur aus einer Frage:
„Würde ich meinen Manager/meine Managerin (in ihrer Rolle) weiterempfehlen?“
Wir werden im vierten Quartal dieses Jahres offiziell zusätzlich ein neues 360-Grad-Feedback-System einführen, welches auf dem erwähnten Leadership-Credo basiert. Jeder Manager wird mindestens einmal im Jahr dieses 360-Grad-Feedback durchführen und einen bestimmten Zielwert erreichen müssen. In diesem Zusammenhang wird jeder Mitarbeitende gebeten, ihren Vorgesetzten zu bewerten. Daraus könnte ggf. wieder ein Coaching-Bedarf oder eben eine andere Maßnahmenkombination abgeleitet werden. So war und ist Lernen und Veränderung wohl eines der zentralen Merkmale von SAP. Unser 50-ig jähriges Bestehen im letzten Jahr bzw. unser relativ stabiler, sehr positiver Aktienkurs scheinen uns mit dieser Ausrichtung Recht zu geben.
Leadership Insiders: Lieber Herr Stenzel, ich danke für das Gespräch und die spannenden Einblicke!
Disclaimer: Die Darstellungen der Themen und der im Interview geäußerten Meinungen sind ausschließlich die von Stefan Stenzel und geben nicht die Position der SAP SE wieder.
Das Interview führte Matthias Müssigbrodt für Leadership Insiders.