Heute Morgen las ich in der FAS einen kurzen Bericht zu einem ungewöhnlichen Praktikum. Es wurde beschrieben, wie ein 27-jähriger Niederländer nach seinem Studium einen Monat lang den Vorstandschef einer Tochtergesellschaft des Personaldienstleisters Adecco begleitete. So gewann er ungewöhnliche Einblicke in die Welt der strategischen Entscheidungen, hochrangiger Verhandlungen, bedeutsamer Meetings und den Umgang mit Menschen.

Personalentwicklung durch Lernen vom Chef oder der Chefin

Diese Art von Praktikum ist sicherlich nicht die Regel, fügt sich aber gut in Maßnahmepakete ein, in denen talentierten Führungsnachwuchskräften beispielsweise im Rahmen des Entwicklungsinstruments „Junior Board“ die Gelegenheit gewährt wird, Entscheidungen von Geschäftsleitungen oder Vorständen zeitgleich oder retrospektiv zu simulieren; dies in Kenntnis der heute wie damals zur Verfügung stehenden Informationen. Die Ergebnisse werden dann im Topmanagement präsentiert.

Diese Entwicklungsidee ist zweifelsfrei anregend, zeigt sie dem jungen, ambitionierten Talent doch die Welt, wie sie nach einem erfolgreichen Karriereverlauf einmal aussehen könnte, sofern die Einnahme einer solchen Position als für einen selbst attraktiv angesehen wird.

a6photo / Shutterstock

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Was bei diesem Human Development Programmschritt allerdings ausgesprochen klassisch bleibt, ist die Richtung des Lernens: eine ältere, erfahrene Führungskraft zeigt einer jungen, wie der Hase läuft. Geht es aber eigentlich nicht auch andersherum? Könnten nicht auch junge Führungsnachwuchskräfte, die gerade von der Hochschule kommen oder sich in der Frühphase ihrer Karriereentwicklung befinden, der Erfahrung überlegene, mindestens aber andersartige Kenntnisse besitzen, die für die Älteren von hohem Wert in ihrem Arbeitsleben sind? Könnte es also sein, dass die Lernhierarchie fallweise umgekehrt werden sollte?

Das Umdrehen der Lernhierarchie – Reverse Mentoring

Spontan würde man denken, warum nicht. Und in der Tat gewinnt diese Perspektive im Rahmen der Führungskräfteentwicklung an Terrain. Es handelt sich um das Führungsinstrument des  sog. Reverse Mentoring. Praktiziert wird es bereits in einigen Unternehmen, darunter der Telekom, Unilever oder Merck. Der Legitimationsdurchbruch wurde vor allem jedoch mit der Einführung bei General Electric erreicht. Die umstrittene Managerikone Jack Welch zeichnete sich hierfür persönlich verantwortlich. Zu Beginn der Internetära bildete er Pärchen zwischen jüngeren und älteren Führungskräften. Die jüngeren Führungskräfte sollten den älteren die Neuerungen in der Technologie parallel-the-job erklären.

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In diesem Sinne ist es Ausdruck eines lebenslangen Lernens, das in Organisationen nicht an Hierarchien gekoppelt ist und als ein wesentliches Element einer lernenden Organisation verstanden werden kann (ebenso wie zum Beispiel das Peer Mentoring). Wichtig ist wie beim klassischen Mentoring generell, dass der Mentor und sein Protegé nicht in derselben hierarchischen Linie liegen und nach Möglichkeit noch nicht einmal im selben Funktionsbereich angesiedelt sind. Ob dies als ein formeller Prozess gestaltet wird, wofür in der Anfangsphase der Einführung sehr viel spricht, …

Einen schnellen Einblick liefert Ewa Sulima von AXA:

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… oder Arenen bereitgestellt werden, in denen sich informelle mentorielle Beziehung entwickeln, ist zunächst nicht so wesentlich.

Wissenschaftliche Studien lassen zur Vorteilhaftigkeit noch keine definitive Aussage zu, wiewohl das informelle Mentoring in einer dafür geeigneten Umgebung (!) die Nase vorn haben könnte. Erklärbar ist dies mit der Wahlfreiheit der Akteure und einer gewissen Zwanglosigkeit, die generell für Entwicklungskontexte positiv gesehen wird, dennoch aber klug vorgesteuert werden muss.

Leadership Development durch Mentoring ist erfolgreich

Apropos Studien: Empirische Untersuchungen zum klassischen Mentoringim Arbeitskontext werden traditionell sehr häufig an Stichproben in den USA durchgeführt. Sie beschäftigen sich dabei schwerpunktmäßig mit den Antezedenzien und Konsequenzen von Mentoring, weniger mit dem Prozess selbst. Wird der Blick auf die Konsequenzen gelegt, so deutet vieles darauf hin, dass mit Mentoring grundsätzlich positive Auswirkungen für den Mentee verbunden sind (Literaturhinweise zum Thema finden sich bei Weibler 2016. Die dort aufgenommenen Nele Graf und Frank Edelkraut rekurrieren in ihrem Werk aus dem Jahr 2014 beispielsweise stark auf Fallstudien und Praxistipps). Eine in meiner „Personalführung“ zitierte Metaanalyse kommt bspw. zu dem Ergebnis, dass Mentoring sowohl mit objektiven Karrierevorteilen (Vergütung, Beförderung) als auch mit subjektiven Karrierevorteilen (Laufbahnzufriedenheit, Aufstiegserwartung, Laufbahnbindung, Arbeitszufriedenheit, negative Fluktuationsabsicht) des Mentees in Beziehung steht. Insbesondere Letztere stellen sich häufig schon nach einer kurzen Frist ein.

Mentoring wird darüber hinaus mit einer steigenden Lernkurve des Mentees in Verbindung gebracht, die im Wesentlichen aus der Wissens- und Informationsteilung mit dem Mentor sowie dem besseren Netzwerkzugang generiert wird. Dies erklärt auch den empirischen Befund, dass ein Mentor mit einer größeren Machtbasis vorteilhafter für den Mentee ist, da die Karriere des Mentees in diesem Falle schlicht besser unterstützt wird. Neben dieser karrierebezogenen Funktion erfüllt Mentoring auch eine psychosoziale Funktion. Diese umfasst die Entwicklung von Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und beruflicher Kompetenz des Mentees. Die psychosoziale Funktion von Mentoring hängt mit den zwischenmenschlichen Aspekten der Mentor-Mentee Beziehung zusammen, die dem Mentee ein Gefühl von Kompetenz, Identität und Effektivität in der beruflichen Rolle vermitteln. Auch der Mentor selber profitiert (z.B. in Bezug auf das eigene Führungsverhalten, Vergütung, Arbeitsleistung, Arbeitszufriedenheit, Sinnstiftung).

Reverse Mentoring und die Generationen Y und Z

Es spricht viel dafür, dass das Reverse Mentoring mit diesen positiven Entwicklungen in Verbindung gebracht werden kann. Leider ist das Weiterbildungs-Controlling, was diese Aussage stützen könnte, nicht nur hier bis heute eine in diesem Ausmaß unverantwortliche Schwach- oder gar Leerstelle der Personalarbeit (ich spreche nicht von Bewertungsbögen zu Veranstaltungen). Dies sollte sich rasch ändern. Blicken wir hier auf die Weiterbildung an sich: Immerhin wurden über 1000 Euro pro Jahr und Mitarbeiterin/Mitarbeiter schon 2013 in Deutschland dafür ausgegeben (darin nach Statista (2016) enthalten: formale und informale Kosten, Kosten für die Fortbildung des Weiterbildungspersonals sowie sonstige Kosten – allerdings mit großen Schwankungen zwischen Sektoren und Beschäftigungsgruppen). So bleiben, was empirische Aussagen zum Erfolg des Reverse Mentoring angeht, vor allem, aber immerhin, Aussagen wie die von Henkel (2016):

Das Reverse Mentoring-Programm wurde zwischen November 2015 und Mai 2016 weltweit in 17 Ländern angeboten – als gemeinsame Initiative der Personal- und Kommunikationsabteilung. Für Henkel ist es ein weiterer Schritt zu einer digitaleren Unternehmenskultur. Die Rückmeldung der Teilnehmer ist durchweg positiv: Neun von zehn würden das Mentoring einem Kollegen weiterempfehlen. Und viele Tandem-Paare haben entschieden, den Austausch regelmäßig weiterzuführen.

Christian Scholz, Generation Z

Was das Reverse Mentoring  aber auf alle Fälle leistet, ist (zukünftig) der Generation Z (und bereits insbesondere den Jüngeren der Generation Y) unmittelbar eine nachgefragte Verantwortung zuzuweisen. Und es ist eine der ganz wenigen Möglichkeiten, spezifische Kompetenzen schon nach einer kurzen Eingewöhnungszeit für die Organisation zu nutzen. Es wirkt motivierend und erhöht nebenbei die insbesondere von Scholz (2014) als grundsätzlich eher kritisch gesehene Bindung
an die Organisation, so zumindest die Vermutung. Gleichzeitig wird Führungserfahrung jenseits einer formalen Machtposition vermittelt. Anzustreben ist natürlich, dass diese mentorielle Beziehung letztendlich so über das Einstiegsthema reift, dass sie immer wieder anlassbezogen in einem wechselseitigen Rollentausch mündet. Ein Meilenstein für eine Organisation, die Lernen demokratisiert und damit erkennt, dass hierarchische Funktion und Lernen im Prinzip nicht zusammengehören.

Anmerkung: Mir ist bewusst, dass die Trennung zwischen jung (= stark in IT-Fragen, vor allem Gerätschaften hierzu sowie Social Media Handling) und alt (vice versa) sehr holzschnittartig ist. In der Reinform überzeichnet sie sicherlich. Aber richtig ist auch, dass neueste Entwicklungen primär von der Next Generation  bis zur späten Generation Y betrieben wird, wie die Altersdurchschnitte vieler Treiberfirmen zeigen. Digital Natives sind für Anwendungen und besonders für das Ausprobieren und Weitertragen empfänglich. Strategische Entscheidungen zur Anwendung oder Marktpenetrierung bedürfen hingegen weitergehender, auch statistischer Kenntnisse, die hiermit nicht automatisch zusammenfallen. Auch liefern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Generationen permanent Grundlagen- wie Anwendungswissen. Das Reverse-Mentoring ist zudem nicht nur auf das Fachwissen bezogen. Es vermittelt auch Werte, Einstellungen, Motive und Emotionen, deren Kenntnis und Beachtung für das Miteinander in Organisationen essentiell und oftmals inspirierend ist. Über diesen intensiven Austausch, der die Gesprächs- und Reflexionsbereitschaft des Anderen einfordert, und Wertschätzung produziert, gewinnen beide. Erst dadurch wird diese Beziehung eine mentorielle, denn Mentoring ist mehr als eine reine Vermittlung von Wissen und etwas anders als Coaching.

 

Literaturverzeichnis

Astheimer, S. (2016): „Neben einem jungen Kollegen sieht man deutlich älter aus“. Interview. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 170, 23./24. Juli, C1

Graf, N./Edelkraut, f. (2014): Mentoring – Das Praxisbuch für Personalverantwortliche und Unternehmer, Wiesbaden

Henkel AG & Co. KGaA (2016): Reverse Mentoring-Programm bei Henkel. Presseinformation. 4. Juli

Scholz, C. (2014): Generation Z: Wie sie tickt, was sie verändert und warum sie uns alle ansteckt, Weinheim

Statista (2016): Entwicklung der Kosten in der betrieblichen Weiterbildung in Deutschland von 1992 bis 2013 (in Euro pro Mitarbeiter).

Weibler, J. (2016): Personalführung, 3. Aufl., München