In der gegenwärtigen Arbeitswelt zeichnet sich ein besorgniserregendes Muster ab, das tiefgreifende Implikationen für die Zukunft der Unternehmensführung hat: Die überwiegende Mehrheit kürzlich befragter MitarbeiterInnen zeigt eine ausgeprägte Zurückhaltung, wenn es darum geht, Führungspositionen anzustreben. Diese Tendenz stellt Unternehmen, natürlich auch Verwaltungen und NGOs, vor erhebliche Herausforderungen bei der Nachfolgeplanung und der Entwicklung zukünftiger Führungskräfte. Warum ist das so?

Unsere Forschungsergebnisse1https://www.visier.com/blog/new-research-individual-contributors-shun-management/ offenbaren eine deutliche Diskrepanz zwischen den Karrierezielen der Mitarbeitende und den Erwartungen der Unternehmen: Lediglich 38% der Fachkräfte äußern Interesse daran, eine Position als Führungskraft in ihrer aktuellen Organisation zu übernehmen. Die geschlechterspezifische Analyse zeigt noch alarmierendere Tendenzen: Während 44% der Mitarbeiter Interesse an einer Führungsposition bekunden, trifft dies nur auf 32% der Mitarbeiterinnen zu. Überraschenderweise bleibt diese Zurückhaltung auch bei einem potenziellen Arbeitgeberwechsel bestehen: Nur 36% der dies artikulierenden Fachkräfte zeigten Interesse an einer Führungsposition in einem anderen Unternehmen.

Was läuft da falsch und was können Unternehmen tun, um die Situation zu verbessern? Welche neuere Forschung kann dabei behilflich sein, die Führungsmotivation im heutigen Arbeitskontext einerseits besser zu verstehen und andererseits bei den Mitarbeitende neu zu entfachen? Wir bei Visier, einer kanadischen People Analytics Software Anbieter mit Hauptsitz in Vancouver und Büros in London, Berlin und Singapur, haben uns heuer intensiv erneut mit dieser Frage beschäftigt und sind diesbezüglich den folgenden Fragen nachgegangen.

  1. Welche Faktoren wirken abschreckend auf Mitarbeitende, wenn es um Führungsrollen geht?
  2. Welche Rolle spielt Gehalt als Motivator für Führung?
  3. Wie sollten Organisationen heutzutage ‘gute Führung’ messen?

Warum Mitarbeiter zögern, Führungspositionen anzunehmen

Unsere erste Studie2https://www.visier.com/blog/new-research-individual-contributors-shun-management/ beleuchtete u. a. die Gründe für die Zurückhaltung gegenüber Führungspositionen sowie die Art und Weise, wie sich die Prioritäten der Arbeitnehmer:innen im Laufe der Zeit verschoben haben dürften. In einer Befragung mit 1.000 Mitarbeitende in den USA erfuhren wir einiges über die Hauptgründe für die Zurückhaltung, sich für formale Rollen mit Verantwortung für die Personalführung zu stellen:

  1. Erwarteter Stress und Druck (40%): Die Aussicht auf erhöhte Verantwortung und damit verbundene Belastungen schreckt viele ab.
  2. Längere Arbeitszeiten (39%): Es besteht die weit verbreitete Befürchtung, dass Führungspositionen mit deutlich mehr Arbeitsstunden einhergehen.
  3. Zufriedenheit mit der aktuellen Position (37%): Ein beträchtlicher Teil der Mitarbeitende sieht keinen Grund, ihre derzeitige berufliche Situation zu verändern.
  4. Mangelndes Interesse an Führungsverantwortung (30%): Die spezifischen Aufgaben einer Führungsposition werden von vielen als unattraktiv empfunden.
  5. Außerberufliche Prioritäten (28%): Persönliche Verpflichtungen und Interessen außerhalb der Arbeit gewinnen zunehmend an Bedeutung.

Die oben genannten Gründe legen eine grundlegende Veränderung in den beruflichen Ambitionen bar, und die Prioritäten der Mitarbeiter verlagern sich zunehmend auf Bereiche außerhalb des Arbeitsplatzes: 67% wünschen sich in Zukunft mehr Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen, 64% erwähnen die Erhaltung der physischen und mentale Gesundheit als Ziel, mehr als die Hälfte (58%) möchten reisen und fast ebenso viele  (54%) denken an eine Gehaltserhöhung. Bemerkenswert ist jedoch, dass traditionelle Karriereziele wie Beförderungen (23%) oder der Eintritt in die Geschäftsführung (4%) deutlich an Priorität verloren haben.

Was ist der Hauptanreiz, eine Führungsposition anzustreben?

Vielleicht wenig überraschend ist das Ergebnis, dass bessere Bezahlung der Hauptmotivator für die Befragten ist, eine Führungsposition anzunehmen: 71% gaben an, dass eine bessere Vergütung sie dazu motivieren würde, Führungskraft zu werden.  Diese Umfrageergebnisse spiegelten sich auch in einer datenwissenschaftlichen Arbeit3https://www.visier.com/lp/visier-research-report-individual-contributor-penalty/ wider, welche wir in Zusammenarbeit mit einem Forschungsteam der Kellogg School of Management, Northwestern University in Chicago, durchgeführt haben.

Die Analyse der 265.000 Datensätze von Mitarbeitende in 27 Großunternehmen ließ die Schlussfolgerung zu, dass Mitarbeiter ohne Führungsverantwortung im Durchschnitt 33% weniger verdienen als Teamleiter oder Teamleiterinnen, die auf der gleichen Organisationsebene arbeiten, selbst nach Berücksichtigung von Faktoren wie Betriebszugehörigkeit, Alter, Geschlecht und ethnischer Herkunft. Die Gehaltslücke ist auf den obersten Ebenen der Organisationen noch ausgeprägter, wo selbige Mitarbeitende 50% weniger verdienen als ihre Führungskräfte in vergleichbaren fachlichen Positionen. Die Vorteile für Führungskräfte gehen über das Jahresgehalt sogar noch hinaus, weil Mitarbeitende nicht nur weniger verdienen, sondern auch ein langsameres Gehaltswachstum im Vergleich zu Teamleitungen erfahren: im Durchschnitt haben Mitarbeiter in individuellen Fachkräfterollen ein um 20% geringeres Gehaltswachstum als ihre Kollegen in Führungspositionen.

Diese Forschungsergebnisse zur Gehaltsdifferenz zwischen einzelnen Fachkräften und Teamleitungen haben wichtige Implikationen für die Motivation von Mitarbeitern, Managementpositionen anzustreben. Dieser signifikante Gehaltsunterschied kann als starker finanzieller Anreiz dienen, eine Managementposition als attraktiv zu erachten, was Mitarbeitende zusätzlich motivieren kann, langfristig eine Führungsposition anzustreben, um von diesem deutlichen finanziellen Vorteil zu profitieren. Allerdings gilt dies nur für den Fall, dass finanzielle Anreize eine hinreichende Bedeutung für die aktuelle Bedürfnisstruktur besitzen.

Diese Ergebnisse sind relevant für Überlegungen rund ums Nachfolgemanagement, doch ist Vorsicht geboten:  Die starke Betonung finanzieller Anreize für Führungspositionen kann auch unerwartete Probleme verursachen. Talentierte Fachexperten könnten sich gezwungen fühlen, eine Teamleitung anzunehmen, auch wenn dies weder ihren Stärken noch ihren Präferenzen entspricht. Das heißt, die Motivation für Führungspositionen wäre keine intrinsische, was die Führungsqualität vieler ManagerInnen durchaus beeinträchtigen könnte.

Ist Führungserfolg zu messen? Heute besser möglich, aber noch wenig verbreitet

Die Erkenntnisse aus den obig genannten Studien zur Natur der Führungsmotivation leiten unweigerlich zur Frage: Wie sollten Unternehmen eigentlich in ihren Augen „gute“ Führungskräfte identifizieren und vor allem, so human und geschäftsorientiert wie möglich in ihrer Performance  messen? Dazu haben wir eine weitere, qualitative Studie4https://www.visier.com/lp/measuring-manager-effectiveness-with-people-analytics/ durchgeführt, welche sich mit dem Prozess und den notwendigen Kennzahlen, die für eine Bewertung von Führungseffektivität notwendig ist, beschäftigte.

Den 23 Interviews mit Personalexperten in amerikanischen und europäischen Unternehmen entnahmen wir, dass Organisationen sehr wohl an einer besseren Messung von Managereffektivität interessiert sind. Als Hauptgründe wurde der Wunsch nach einer besseren Sichtbarkeit der Managerleistung, das Ziel der Verknüpfung von Managementpraktiken und Geschäftsergebnissen, sowie ein besseres Verständnis der Geschäftsauswirkungen von ManagerInnen genannt.

Eine detailliertere Betrachtung der finanziellen  und  nicht-finanziellen Kennzahlen, die zur Bewertung von Führungskräften verwendet werden, ergab, dass etwa 50% der befragten Unternehmen finanzielle und produktivitätsbezogene Metriken nutzen, darunter: die Erreichung von Margenzielen sowie bereichsspezifischer Ziele  inklusive der Anzahl von abgeschlossenen Deals oder das Erreichen der vorgeschriebenen Verkaufsvolumina oder die Anzahl abgeschlossener Neuaufträge. Diese und weitere operative Kennzahlen wie beispielsweise die Personalauslastungsquote oder die Kundenzufriedenheit geben bekanntlich (teilweisen) Aufschluss über die direkte Auswirkung der Führungskraft auf finanzielle Ergebnisse und Produktivität. Soweit nichts Neues.

Interessant war allerdings die Erkenntnis, dass Unternehmen zunehmend auch auf nicht-finanzielle Metriken setzen, wenn die Effektivität von Führungskräften bewertet werden soll. Der Leitgedanke dabei ist, mithilfe mitarbeiterbezogener Kennzahlen wie Mitarbeiterzufriedenheit, Fluktuationszahlen, oder Beförderungsraten der Teammitglieder bisher wenig bekannte Einsichten zum Führungsstil und des täglichen Führungsverhaltens zu gewinnen. Dabei befassen sich momentan 65% der Befragten Unternehmen mit einer umfassenden Bewertung der Zufriedenheit und des Engagements im Team, 55% mit Abwanderungszahlen von Leistungsträgern, oder 32% mit der Fähigkeit einer Führungskraft, Talente zu entwickeln und zu halten.  Diese nicht-finanziellen Kennzahlen ermöglichen eine ganzheitliche Bewertung der Führungseffektivität, die so über reine finanzielle Ergebnisse hinausgeht.

Welche Tipps zur Steigerung der Motivation, zu führen, sind prioritär?

Um die Führungspipeline zu sichern, müssen Organisationen ihre diesbezüglichen Strategien grundlegend überdenken. Dazu drei Tipps:

Tipp 1: Neugestaltung der Führungskultur im Unternehmen

Die hohe Erwartung an Stress, Druck und längere Arbeitszeiten in Führungspositionen hält viele Mitarbeitende davon ab, eine solche Rolle anzustreben. Um Führungspositionen attraktiver zu gestalten, sollten Unternehmen daher Wege finden, ein ausgewogeneres Arbeitsumfeld mit weniger Belastung zu schaffen und die Work-Life-Balance für Führungskräfte zu verbessern.

Tipp 2: Neuausrichtung der Anreizsysteme für Führungskräfte

Während die Implementierung leistungsbasierter Vergütungsmodelle die Attraktivität von Führungspositionen steigern können, muss dies von einem datenbasierten Ansatz zur Messung von Führungspotenzial und -effektivität begleitet werden, um zu verhindern, dass eine fehlgeleitete Motivation zur Norm wird.

Tipp 3: Neudefinierung der Messung von Führungseffektivität

Datenbasierte Ansätze sind entscheidend für die aussagekräftige Messung der Managereffektivität, da sie objektive Einblicke in die Leistung und den Einfluss von Führungskräften auf Mitarbeitende und Geschäftsergebnisse ermöglichen. Durch die Kombination von finanziellen und nicht-finanziellen Kennzahlen können Unternehmen ein ganzheitliches Bild der Managereffektivität gewinnen und gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Führungskompetenzen und des Unternehmenserfolgs ableiten.

Fazit: Implikationen für die Unternehmensführung

Die vorliegenden Forschungsergebnisse verdeutlichen einen Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt, der tiefgreifende Implikationen für die Zukunft der Unternehmensführung hat. Die traditionelle Vorstellung einer linearen Karriereentwicklung mit dem Ziel einer Führungsposition entspricht nicht mehr den Präferenzen und Wertvorstellungen der modernen Arbeitnehmerschaft.

Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre Führungsentwicklungsstrategien neu auszurichten, um sowohl traditionelle Führungsrollen als auch alternative Karrierewege für Fachexperten zu berücksichtigen. Nur durch eine flexible und mitarbeiterorientierte Herangehensweise können Organisationen eine robuste Führungspipeline für die Zukunft sicherstellen und gleichzeitig die sich wandelnden Prioritäten ihrer Mitarbeiter berücksichtigen.

Die Zukunft der Unternehmensführung wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es gelingt, die Attraktivität von Führungspositionen zu steigern und gleichzeitig alternative Karrierepfade zu etablieren, die den diversen Ambitionen und Lebensentwürfen der Mitarbeitenden Rechnung tragen. Nur so können Unternehmen im zunehmenden Wettbewerb um Talente bestehen und ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit sichern.