Grundsätzlich bestehen in allen Organisationen Spannungsfelder, die schon das Verhältnis von Organisation und darin eingespanntem Individuum an sich berühren – und somit auch das Agieren von Führungskräften. Solche Spannungsfelder, die wir uns einmal als ein Kontinuum mit zwei konträren Polen vorstellen wollen und nur zulasten eines ebenfalls funktional unverzichtbaren und/oder gleichsam geschätzten wertbeladenen Pols aufzulösen sind, werden gemeinhin als Dilemmata bezeichnet. Welche Rolle spielen diese eigentlich im Organisations- und Führungsalltag und gibt es nicht, so vertrackt sie auch sein oder wirken mögen, doch einen vernünftigen Umgang damit? Leadership Insiders geht genau hierauf tiefer ein.
Dilemma – Vom Inbegriff der Qual der Wahl
Ein Dilemma (griechisch für eine „zweigliedrige Annahme“) bezeichnet gemeinhin eine Situation, die zwei Wahlmöglichkeiten bietet, die jedoch beide gesamthaft gesehen gleichermaßen zu einem unerwünschten Resultat führen (die redensartliche „Wahl zwischen Pest und Cholera“). Es kann sich aber auch daraus ergeben, dass man bei der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten schlichtweg keine wählen kann, weil die vollständige Gleichwertigkeit der Alternativen zusammen mit der Wahlnotwendigkeit eine Ergebnisfindung praktisch unmöglich macht.
Klassisches Beispiel ist dabei das berühmt gewordene Dilemma von Buridans Esel. Dieser verharrt unbeweglich zwischen zwei gleichgroßen und gleich weit entfernten Heubündeln, weil er sich weder für das eine noch für das andere entscheiden kann. Dieses Gleichnis zeigt anschaulich die Unmöglichkeit einer logisch-rationalen Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Lösungsangeboten, hier in Form von Heuhaufen. Der Esel verhungert schließlich, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Der Name dieses klassischen Dilemmas geht auf den Scholastiker Johannes Buridan (1300-1358) zurück, der mit diesem Beispiel die Ansicht von der Unmöglichkeit der Willensfreiheit zu erläutern versucht haben soll. Genau genommen hat er selbst dazu allerdings neben anderen abstrakten Beispielen wie Weggabelungen als einzige Tiergestalt die Figur eines Hundes, der sich nicht zwischen zwei identischen Nahrungsquellen entscheiden kann, verwendet. Und zudem stammt das damit versinnbildlichte Grundproblem auch nicht wirklich von ihm, sondern wird u.a. auch schon von Aristoteles beschrieben, wonach ein gleichermaßen Hungriger wie Durstiger zwischen Trinken und Essen stehend umkommen müsste. All diese Gedankenexperimente zeigen jedenfalls, dass es ein entsprechendes Bewusstsein von Dilemmata und damit einhergehenden (prekären) Zwangslagen ganz offenkundig schon vor sehr langer Zeit gegeben hat.
Dilemmatische Situationen – Kristallisationspunkte des Widersprüchlichen
Dilemmatische Situationen – anschaulich gerne als „Zwickmühlen“ bezeichnet – treten in der Realität häufig auf und gelten mittlerweile als quasi unvermeidbare Begleiterscheinungen des Arbeits- und Berufslebens überhaupt (vgl. Zwack/Bossmann 2017). Bedeutung, Formen, Ursachen und Wirkungen von Dilemmata wurden in der auf die Führungs- und Organisationspraxis gerichteten Literatur vielfältig beschrieben (z.B. Lebrenz 2020). Besonders in Organisationen wird unter einem Dilemma eine Situation verstanden, in der zur Zielerreichung scheinbar gleichzeitig zwei (oder mehrere) sich ausschließende Entscheidungs- bzw. Handlungsoptionen gewählt werden könnten oder müssten, für die beide gute Gründe sprechen.
Derlei Dilemmata manifestieren sich klassisch-fundamental als (oft unvereinbare) Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Interessen der Organisation. Zum Beispiel strebt der Mensch sowohl nach Sicherheit, Orientierung und Eindeutigkeit, wie auch zugleich nach Autonomie als Chance zur Individualität und Selbstbestimmung (vgl. Deeg/Weibler 2008). Dies kollidiert leicht mit den Interessen und Zweckorientierungen von Organisationen, die Flexibilität und Verfügbarkeit über Personal anstreben und weniger „Persönlichkeiten“ mit all ihren Idiosynkrasien zu schätzen wissen – nehmen wir hier die jüngere Wende in Richtung New Work teilweise aus. Aber selbst bei der Hervorhebung von Schnittmengen bleiben gegensätzliche Interessenlagen offensichtlich, wie der Altmeister der Organisationsentwicklung und des Lernens in und von Organisationen, Chris Argyris, schon frühzeitig festhielt (1975, S. 233).
„Das Dilemma zwischen individuellen Bedürfnissen und organisationalen Erfordernissen, ist ein grundlegendes, andauerndes Problem, das der Führungskraft ewige Herausforderung bietet“.
Auch simple organisatorische Strukturlösungen wie eine funktionale Differenzierung, die uns z.B. in Form von Bereichsdenke oder Rollenspezialisierungen gegenübertritt, beinhalten permanente Spannungsfelder, die für darin agierende Führungskräfte auf logisch-entscheidungstechnischem Weg kaum zu entschärfende Dauerkonflikte mit sich bringen. Diese geben zu einem ständigen situativen bzw. einzelfallbezogenen Navigieren Anlass, wie es die Autoren Julika Zwack, Ulrike Bossmann und Jochen Schweitzer (2016) weiterführend anschaulich beschreiben.
Dilemmatische Konstellationen – der Blick aufs Größere und Ganze
Dilemmatische Phänomene sind davon losgelöst oft in eine Struktur dilemmatischer Konstellationen eingebettet, aus denen heraus sich dann immer wieder Spannungssituation ergeben oder entladen, wenn man so will. In Organisationen gibt es beispielsweise die Dilemmata-Konstellationen von Wandelfähigkeit und Stabilität, von Innovation und Tradition, von Bewahren und Erneuern wie auch dilemmatische Spannungsfelder zwischen Zukunftsorientierung und Vergangenheits- bzw. Gegenwartsbewusstsein, aber auch von hochgradiger geistiger Flexibilität und unerschütterlicher Identität.
Herauszustellen ist das Gegensatzpaar von Stabilität und Wandel (bzw. Statik und Dynamik), das insbesondere die Erfüllung der Führungsaufgabe vor widersprüchliche Anforderungen stellt: So sollen Führungskräfte einerseits in Wandelprozessen die Veränderung vorantreiben, anderseits als sprichwörtlicher „Fels in der Brandung“ Stabilität und Kontinuität garantieren. Sie sind aber nicht nur zwischen Beharrung und Veränderung hin- und hergerissen, sondern – gleichzeitig und ganz praktisch – auch zwischen Distanz und Nähe zu den Geführten, um Obiges zu erreichen. Nur was wann und wie?
Einige andere Beispiele: Organisationen sind sowohl auf klare Verantwortlichkeiten und Regeln als auch auf Flexibilität, Improvisation und Innovation angewiesen. Organisationen brauchen klare Zielvorstellungen, aber auch die Bereitschaft, möglicherweise von den festgelegten Zielen bewusst abzuweichen. Identifikation mit der Organisation und Arbeit ist förderlich, kann aber zugleich notwendige Veränderungen verhindern. Außerdem sehen sich Organisationen der Notwendigkeit ausgesetzt, Freiräume und Puffer zu schaffen, welche aber auch für organisationsfremde Eigeninteressen missbraucht werden könnten.
Man könnte auch sagen, dass eine Tendenz zu einem Pol (z.B. Stabilität) hin, immer auf Kosten des anderen Pols geht (z.B. Wandel), und sich kein einfacher oder dauerhafter Kompromiss erreichen lässt. Dies zeigt sich sehr anschaulich an den auf die unhintergehbaren Begrenzungen von Raum und Zeit zurückgehenden Dilemmata, denen Menschen ganz generell unterworfen sind, wie wiederum das Team um Julika Zwack anführt. In solchen Fällen schließt jede Entscheidung für das eine das andere sogleich aus. Dies lädt praktisch gesehen geradezu dazu ein, soweit sich ein Verharren im unschlüssigen Erwägen beider überhaupt überwinden lässt, zwischen den sich bietenden Alternativen hin und her zu wechseln, wie es bei dem Wechselspiel zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung oder allgemeinen Standards versus lokale Eigenheiten gut bekannt ist.
Oder denken wir mit Stefan Kühl auch das Dilemma von gleichzeitiger Integration und Ausschluss von Mitarbeitenden (2002): So müssen aus Sicht der Organisation Mitarbeitende einerseits integriert werden, damit ihre Kreativität und ihr Engagement instrumentell genutzt werden kann – denn ein sich fremd fühlendes Individuum wird seine Leistungen im Zweifel nicht in dem Maße in den Arbeitsprozess einbringen, wie dies mit Blick auf die Gesamtaufgabe wünschenswert wäre. Andererseits müssen Mitglieder austauschbar bleiben, damit die Organisation nicht zu sehr von ihnen abhängig wird. Denn eine fachlich begründete oder kompetenzbezogene Unverzichtbarkeit kann als Machtbasis genutzt werden, um sich Aufgaben oder Anweisungen entgegenzustellen. Für dieses beschriebene Inklusions-Exklusions-Dilemma besteht keine dauerhafte Lösung, so dass in der Organisationspraxis ständig neue Aushandlungsprozesse und Kompromisse erforderlich sind.
Und selbst die aktuellen New Work-Ansätze stehen unverändert im schon von Amitai Etzioni 1973 ausgemachten Spannungsfeld: hier der Pol von Effizienz und Performanz (Organisationssicht), dort (Individuumssicht) der Pol Selbstverwirklichung und Zufriedenheit mit Arbeit und Leben. Dilemmata sind also wahre „Dauerbrenner“ (vgl. auch Berend/Brohm-Badry 2020).
Warum ist all dies für Führende von Belang? Fundamentale Dilemmata in Organisationen haben Folgen für die interindividuellen Kommunikationsprozesse, wodurch sich paradoxe Kommunikationsmuster und damit einhergehend auch Beeinträchtigungen der Interaktionsqualität wie der Führungs- und Teambeziehungen ergeben, beispielsweise wenn von der Führungskraft in Verlagerung der dilemmatischen Entscheidung Mixed Messages an das Team gesandt werden, die allein dazu dienen, bei Misserfolg oder Ärger die eigene Schuld von sich zu weisen. Dies verschlimmert eher die Situation und trägt nicht zu einer vernünftigen Entscheidungsfindung bei. Gleiches gilt für das allseits erst einmal recht bequeme, aber auch wenig konstruktive Überantworten bzw. das Überwälzen von eigenen unbewältigten Dilemmata auf andere – eine Versuchung nicht nur für hierarchisch Vorgesetzte, sondern auch in der lateralen Zusammenarbeit.
Wie sollen Führungskräfte sich in dilemmatischen Entscheidungssituationen am besten verhalten?
Grundsätzlich – und dies ist wohl die wichtigste Botschaft – können Dilemmata in Organisationen weniger gelöst als vielmehr (einigermaßen) neutralisiert bzw. in eine bearbeitbare Form gebracht werden, beispielsweise durch zeitliche Entzerrung, wie es Edwin Hollander bei seiner Idiosynkrasie-Kredit-Theorie der Führung postuliert. Es handelt sich bei Dilemmata definitionsgemäß um eine Situation, die prinzipiell nicht unmittelbar entscheidbar ist – oder für die es wenigstens mehrere, wenn nicht gar viele Lösungen gibt, aber jedenfalls keine einzig richtige, überlegene.
Einseitige Gestaltungsansätze sind damit auch nicht unbedingt zielfördernd, wie es der 2018 verstorbene Diether Gebert einst treffend formulierte (2004, Sp. 198). Vielmehr scheint eher ein bewusstes Versuchen für den Moment angebracht, das sich dann wieder in eine andere Richtung bewegt, wenn die Nachteile die errungenen Vorteile allmählich überwiegen. Dafür müssen Verschiebungen in deren Verhältnis allerdings aufmerksam beobachtet und am sich abzeichnenden Wendepunkt auch ein Umsteuern aktiv eingeleitet werden.
In der Praxis sind in Organisationen dementsprechend häufig zyklische Prozessmuster in Bezug auf bestimme Entscheidungsalternativen, insbesondere struktureller Art (Zentralisierung – Dezentralisierung – Re-Zentralisierung – Erneute Dezentralisierung), zu beobachten. Nach mehreren, in kürzerer Zeit durchlaufenen Zyklen besteht dabei aber die nicht unerhebliche Gefahr, dass Mitarbeiter solchen oft als paradox wahrgenommenen Bewegungen nicht folgen können oder wollen und die Führungskräfte und/oder die Leitung unglaubwürdig werden. Denn konsistente rationale Begründungen solch andauernder Bewegungen vom einem zum anderen (und zurück) fallen schwer und senken die Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit der Organisation. Noch dazu steht ein ständiger „Zick-Zack-Kurs“ diametral zum in der Führungs- und Managementlehre wie -literatur beständig hochgehaltenen und sicherlich von vielen Geführten auch geschätzten Ideal der Geradlinigkeit. Unbeantwortet bleibt mindestens im Moment der Entscheidung, ob ein konsequente Nichtänderung bzw. ein organisatorisches Beharrungsvermögen am Ende nicht auch zum selben oder gar besseren Ergebnis mit weniger Umstellungsaufwand führen würde oder im Rückblick geführt hätte.
In Anbetracht dessen wird auch verständlich, warum Führungskräfte wie Mitarbeitende im Spannungsfeld dilemmatischer Konstellationen gerne zur Ironie als Reaktionsmuster flüchten (vgl. dazu näher Hoyle/Wallace 2008). Denn ein Kommunikationsverhalten, bei dem das Gemeinte im genauen Gegensatz zum Gesagten steht, passt quasi symmetrisch zu einer Situation, in dem das letztendlich Erreichte ganz und gar nicht dem ursprünglich Gewollten entspricht. Dies zeigt uns nochmals, dass die fundamentalen Gegensätzlichkeiten, die sich hinter organisatorischen Dilemmata verbergen, oft nur ein Arrangement mit den Gegebenheiten und ihrer Unberechenbarkeit oder die Entwicklung eines gewissen Modus Vivendi erlauben, aber keine endgültige, allseits zufriedenstellende Lösung. Einziger Trost: Mitbewerber oder andere Führungskräfte müssen Ähnliches aushalten.
In Anbetracht dessen wird für Führung eine vom Begriff her auf den englischen Dichter John Keats (1795-1821) – so etwa Jacob D. Wigod 1952 unter Berufung auf ein Werk von H. W. Garrod 1939 – zurückgehende „Negative Capability“ wichtig. Vielfältigen Widerhall fand der damit zum Ausdruck gebrachte Gedanke, sich auch in schwierigsten Umständen nicht irritieren zu lassen und im quasi unstillbaren menschlichen Verlangen nach Gewissheit gründenden Versuchungen, nervös nach dem Naheliegenden mittels Heranziehung bestimmter Annahmen, Erklärungen oder Fakten zu greifen, zu widerstehen – u.a. produktiv verarbeitet in der Philosophie wie Psychoanalyse (zur Aufnahme in die Führungslehre siehe Simpson/French/Harvey 2002).
Dieses Vermögen heißt des von Spannungsfeldern geprägten Führungshandelns nicht nur darin, ganz generell eine entsprechende Geduld in Anbetracht nicht restlos aufklärbarer Komplexitäten aufzubringen, sondern umfasst speziell die Fähigkeit, Unsicherheiten, Frustrationen oder Ängste auszuhalten, die sich in dilemmatischen Situationen unweigerlich ergeben.
Zusätzlich hilft es, ein „Entweder-Oder-Denken“ zugunsten einer „Sowohl-als-auch-Herangehensweise“ aufzugeben und mit Dilemmata möglichst kreativ und konstruktiv umzugehen. Dies ermöglicht es Führungskräften, neue Handlungsspielräume zu eröffnen und geschickter bzw. gewandter zu (re-)agieren, wenn sie sich in oftmals sehr unbehaglichen dilemmatischen Entscheidungssituationen bewegen. Weniger werden solche zukünftig wohl eher nicht.