Ikarus flog der Sage nach hoch, zu hoch. Leider bewirkte das, was ihm das Fliegen erst ermöglichte, die mit Wachs verbundenen Federn, paradoxerweise auch seinen Absturz. Das Wachs schmolz aufgrund zu hoher Hitze und die Federn konnten ihn so nicht mehr tragen. Im heutigen „Age of Paradox“ treten auch in Organisationen, begünstigt durch innere wie äußere Faktoren, zunehmend paradoxale Sachverhalte auf. Die Frage ihrer genauen Entstehung ist umstritten, mindestens aber vielfältig. Einerseits sollen sie jeder Organisation zu Eigen sein, andererseits werden sie allein als Produkt der Wahrnehmung eines inkonsistenten Handelns oder eines verblüffenden Ausgang des Handelns gesehen. Leadership Insiders führt in die eigenartige Welt der Paradoxien in Organisationen ein und hält für Führungskräfte Empfehlungen für den anspruchsvollen Umgang damit bereit.
Was sind Paradoxien?
Der altgriechische Ursprung des Begriffs Paradoxon liefert bereits die Grundlage für das heutige, breiter verwendete Verständnis: der allgemeinen Meinung oder Lehre zuwiderlaufen bzw. durch Gegensätzlichkeiten, Widersprüchlichkeiten, Negationen oder Zirkelhaftigkeiten gekennzeichnet zu sein (vgl. Reindl 2008, S. 7ff.). Das klassische Beispiel hat Epimenides, der Kreter, formuliert, indem er sagt: „Alle Kreter lügen!“
Wenn wir hier ansetzen und beispielsweise schreiben: „Dieser Satz ist falsch!“, ergibt sich die Frage: Ist diese Aussage nun wahr oder falsch? Der Satz ist wahr, wenn er falsch ist und falsch, wenn er wahr ist. Auch die Aufforderung „Lesen Sie diesen Satz nicht!“ können Sie nicht zur Kenntnis nehmen, ohne gegen sie zu verstoßen. Mit anderen Worten entsprechen bei Paradoxa, sind sie als Aussage nicht selbst logisch irgendwie verdreht, die kausalen Konsequenzen nicht den üblichen Erwartungen. Paradoxale Zusammenhänge liefern keine eindeutig linear-kausalen Zuordnungen und klingen spontan eher absurd, wie Marianne Lewis schon vor mehr als zwanzig Jahren feststellte (2000, S. 760). Sie überraschen, weil eine Folge auftritt, die so nicht erwartet wurde. Ein scheinbar annehmbarer Gedankengang führt plötzlich zu einer unannehmbaren Schlussfolgerung, wie Richard Sainsbury (2001) herausstreicht. Oder umgekehrt: Ein Sachverhalt erscheint zunächst nicht schlüssig (bspw. eine effizientere Ressourcennutzung erhöht die Nachfrage danach), lässt sich aber, Morgen Witzel u.a. (2016) folgend, logisch folgerichtig beweisen. Man fühlt befremden, weil man nicht so recht weiß, wie nun damit umzugehen ist. Im Gegensatz zu einem Dilemma bezieht sich die die Paradoxie nicht auf zwei Wahl- oder Handlungsoptionen, sondern auf die Wahrheit der Aussage, über die nicht klar und eineindeutig entschieden werden kann. Für Organisationen relevant sind typischerweise Verknüpfungen, die (implizit) eine paradoxe Schlussfolgerung in sich bergen: „Erfolg führt zu Misserfolg“. Deshalb ist nicht ohne Grund eine Erkenntnis in der strategischen Unternehmensführung, dass gegenwärtiger Erfolg zukünftigen Erfolg gefährdet, weil er das Weiterlernen unattraktiver macht (weil z.B. Neugierde erlischt) .
Paradoxien in Organisationen
Nachfolgend geben wir eine Übersicht über zentrale Paradoxien, von denen das eine oder andere auch Ihren Alltag prägen wird. Nehmen wir zum Einstieg eines, das erst durch einen Umstand in der Organisation und ihre Reaktionsweise darauf entsteht, das „Erholungsparadox“ (Sonnentag 2018). Beispielsweise zeigt sich, dass eine wirkungsvolle Erholung eines Individuums umso wichtiger und notwendiger wird, je höher seine arbeitsbezogenen Stressoren sind. Doch genau dann ist unglücklicherweise die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch effektiv gelingt, gleichzeitig umso geringer.
Und machen dann gleich bei einem hierzu gut passenden weiter, dem ad hoc kreierten „Leistungsparadox“. Wer kennt es nicht: wieder drängt ein Projekt oder die Chefin benötigt eine neue Ausarbeitung, wobei man ohnehin schon alle Hände voll zu tun hat. Es sind ja überproportional häufig gerade die, die mehr Aufgaben übertragen bekommen, die eh schon überdurchschnittlich viele angehen. Und je besser sie diese erledigen, umso mehr steigert sich die Menge. Warum diese Leistungsfalle, die zu einem gefährlichen Teufelskreis führen kann? Weil eine bisherige Leistung verspricht, wieder gute Resultate abzuliefern und ausgemacht zuverlässige Leistungsträger keine Aufmerksamkeit (Zeit ist ein knappes Gut) seitens der Führung benötigen. Zwar ist das dem Führenden meistens auch bewusst, doch sieht er bei einem geistigen Rundblick über das Team oft schnell keine Alternative und da „schnell“ nicht selten „immer“ ist, ergeben sich Auflösungen dieser einseitigen Belastung nur langsam, wenn überhaupt.
Zwei weitere Beispiele seien zur Veranschaulichung herausgegriffen:
So sollten Entscheidungen ja eigentlich umso besser ausfallen, je mehr Informationen als Entscheidungsgrundlage vorliegen – möchte man meinen. Je mehr Informationen allerdings tatsächlich verfügbar sind, desto schwieriger wird es aber, diese Informationen zu verarbeiten, und desto langwieriger gestalten sich Entscheidungsprozesse (Informationsparadox). Gerade in der Überfülle werden Informationen durch ihre nicht mehr recht zu überblickende und bewältigende Menge wertlos. Obwohl man immer mehr Informationen hat, weiß man also sozusagen immer weniger – oder wird jedenfalls unsicherer. Dadurch sinkt auch die Möglichkeit, für sich begründet zu entscheiden. In diesem Fall tritt der paradoxe Effekt durch einen „information overload“ auf, der typisch für Informationsprozesse ist und auch Entscheidungsprozesse negativ beeinflusst.
Gehen wir noch kur auf einen anderen Fall ein, das Regelparadox: Regeln können nur dann ihre ordnungsstiftende Wirkung in optimaler Weise voll entfalten, wenn sie möglichst strikt eingehalten werden. Andererseits stellen selbst Regelverletzungen oftmals kreative Mittel der Ordnungserhaltung dar, weil in bestimmten Fällen eine unreflektierte Regeleinhaltung die Ordnung unterminiert. Eine ordentlich geregelte Berechtigung und Verpflichtung zur außerordentlichen Wiederherstellung (und Erhaltung) der Ordnung, kann es allerdings nicht geben. Dazu müssten in allen Regeln auch alle Ausnahmen von Regeln „geregelt“ sein. Ein derartiges Regelwerk ließe allerdings keine ungeregelten Freiräume mehr offen, die für eine Ordnungserhaltung kreativ genutzt werden könnten. Der Soziologe Stefan Kühl spricht hier von einem funktionalen Regelverstoß und brauchbarer Illegalität (2019).
Und wie ist es um die Führung bestellt? Stefan Kühl führte schon in 2002 selbst einige paradoxe Handlungsimperative auf, die typisch für die Führungspraxis sind:
- „Sei-selbständig-Paradox“: Hierbei kommt es zu einer zentralistischen Einführung von dezentralen Strukturen. Damit wird die Selbstorganisation vollständig fremdorganisatorisch vorgegeben und verhindert eine selbstbestimmte Ordnungsbildung. Eine Zunahme der Autonomie bedeutet in diesem Fall auch keine Abnahme der Kontrolle.
- „Entscheide-selbst-aber-nur-unter-Vorbehalt“-Paradox: Zwar lässt das Management Mitarbeiter selbst entscheiden, es dürfen letztlich aber nur Entscheidungen getroffen werden, die auch den Vorstellungen des Managements entsprechen. Damit besteht eine Diskrepanz zwischen zugewiesener Verantwortung und realen Handlungsmöglichkeiten.
- „Organisier-dich-selbst-aber-nicht-so“-Paradox: Dabei wird Mitarbeitern die Möglichkeit eingeräumt, sich selbst zu organisieren, aber nur gemäß den Wünschen der Leitung. Die von oben propagierte Selbstorganisation passt nicht zu den organisch gewachsenen oder spontanen Ordnungsprozessen und bedroht oder verdrängt die vorhandene, ungeplante Selbstorganisation.
Bei diesen paradoxen Handlungsimperativen handelt es sich zwar nicht um schier unrealisierbare Handlungsmaximen wie etwa bei einem Null-Fehler-Programm (wenn man es ganz genau mit einem solchen nimmt), aber um in sich widersprüchliche Aufforderungen, bei denen teilweise das Gegenteil des Gesagten gemeint ist. Damit kann aber auch das Gegenteil dessen eintreten, was hierdurch beabsichtigt wird. Vor allem aber droht die enthaltene Widersprüchlichkeit ein rational „richtiges“ Verhalten zu untergraben oder zu verunmöglichen. Das schafft für die Adressaten – also Geführten – eine schwer aushaltbare, absurde und frustrierende Situation, besonders wenn die Möglichkeiten einer Thematisierung oder eines Sich-Entziehens fehlen (vgl. Berti/Simpson 2021). Zumal die Urheber derartiger Botschaften sicherlich versucht sein dürften, die Eindringlichkeit des Appells noch weiter zu steigern, wenn die von ihnen eigentlich gewünschten Reaktionen ausbleiben. Da ist der Weg von Paradoxien zu Pathologien nicht mehr weit.
Führen mit Paradoxien
Paradoxien durchziehen Organisationen auf allen möglichen Ebenen – angefangen beim Einzelnen (darunter die Führungskraft selbst), über Gruppen bzw. Teams bis hin zur Gesamtorganisation und schließlich auch in ihren Außenbeziehungen. Das heißt: Ihnen im Organisations- bzw. Führungsalltag ausweichen zu wollen, ist praktisch unmöglich, wäre aber auch nicht klug.
In Anbetracht dessen fordert ein Team um den inzwischen emeritierten Managementforscher Hans Wüthrich (2009) Führungskräfte dazu auf, die Paradoxie in virtuoser Weise in das Führen einzubauen. Eine solche paradoxiegerechte Führung besteht für die Autoren, ganz im Einklang mit der Position auf paradoxale Sachverhalte auch paradoxal zu reagieren, u.a. darin, vertrauter Kontrolle zu misstrauen, Vielfalt zu standardisieren, Sachzwänge frei zu wählen oder im Beschleunigen innezuhalten – und schlussendlich die Nicht-Steuerbarkeit (unübersichtlicher Organisationsverhältnisse) zu steuern.
Dies mutet angesichts einer typischerweise paradoxieunfreundlichen Führungskultur kühn an. Nichtsdestotrotz scheint die simultane Verwirklichung von Gegensätzlichkeiten ein Schlüsselmoment dafür zu sein, wie gut Führung mit paradoxen Erwartungshaltungen prinzipieller Natur umgehen kann, wie Professor Eric Kearney u.a. von der Universität Potsdam vorführt (2019).
Praktisch gesehen heißt das mit Bezug auf die Professorinnen Wendy Smith und Marianne Lewis (2011) und ihr im Zentrum einer Theorie des Paradoxen stehendes dynamisches Gleichgewichtsmodell des Organisierens Folgendes:
Zunächst nötig ist eine bewusste Akzeptanz paradoxaler Umstände, auf die hin Lösungswege in den Grundspannungen erkundet und angegangen werden können. Dafür können wiederum zwei idealtypische Strategien differenziert werden, zwischen denen im Zeitablauf aber ein sich schrittweise vollziehender Wechsel stattfinden sollte.
Die eine Strategie ist die Aufspaltung der Spannung in ihre beiden Alternativen und anschließende Entscheidung für eine der beiden (Kontrolle oder Vertrauen). Die andere Strategie besteht im Finden von Synergien zwischen den beiden Alternativen (direktive vs. partizipative Führung) einer (oder mehrerer) Spannung(en) bzw. Inkonsistenzen, die immer wieder bzw. andauernd auszubalancieren sind. Im Ergebnis würde eine situative Festlegung einerseits mit einem Hybrid (straff-lockeres Verhalten) im möglichst geschickten Wechsel zwischen beiden verbinden. Also „höhere Logik“ und selbst Paradoxie in Reinkultur, aber mit gezielter Absicht!
Was kann man sich hiervon versprechen? Kurz gesagt eine „Freisetzung der Kraft des Paradoxen“ so die genannten Autorinnen statt der sonst oft üblichen Behinderung und Lähmung in dessen Angesicht. Gegründet ist dies auf drei hierbei greifenden Wirkmechanismen: Der Ermöglichung von Lernen und Kreativität, der Förderung von Flexibilität und Widerstandsfähigkeit und – ein vielleicht am wichtigsten überhaupt – der Freisetzung menschlichen Kreativitätspotenzials. Man sieht: aus zunächst Irritierendem, gar Ärgerlichen, kann bei umsichtiger Handhabung ein Innovationsbeschleuniger werden. Deshalb liest man gelegentlich als Empfehlung, paradox zu intervenieren, um kreative Denkprozesse anzustoßen. Unter anspruchsvollen Umweltbedingungen ist all dies potenziell geeignet, sich nach und nach besondere, höherwertige Einsichten und Anpassungsleistungen systematisch „anzutrainieren“. Nimmt man es mit der Sonderbarkeit des Paradoxen aktiv auf, öffnen sich potenziell ungekannte Horizonte.
Aber auch das gehört im Umgang mit Paradoxien zur Wahrheit: Es bleibt auf der praktischen Ebene ziemlich schwierig. Zhang und andere (2015) geben nämlich zu bedenken, dass ein paradoxales Führungsverhalten nicht nur positive Effekte zeitigt, wie dies von der Mehrheit der Literatur oft ausschließlich hervorgehoben wird, sondern auch dezidiert negative Konsequenzen haben kann. Es beansprucht in hohem Maße die kognitiven Ressourcen von Führungskräften, weil es in nicht-linearen, zirkulären Bezügen umso komplizierter wird, vielfältige Erfordernisse zu berücksichtigen und quasi virtuos aufeinander abzustimmen. Sie schlussfolgern daraus, dass entsprechend deren Stressniveau ansteigen dürfte, was sich nachteilig auf den Führungserfolg auswirken könnte.
Außerdem hängt die Wirksamkeit paradoxalen Führungsverhaltens – wenn ein solches von Führungskräften überhaupt realisiert werden kann – auch davon ab, inwieweit Geführte in der Lage sind, selbst paradoxale Muster zu erkennen und mit ihnen konstruktiv umgehen zu können. Insbesondere jene, die ein ausgeprägtes und striktes „Schwarz-Weiß-“ bzw. „Entweder-Oder”-Denken pflegen, könnten erhebliche Schwierigkeiten haben, einer paradoxal agierenden Führungskraft ohne Weiteres zu folgen. Denn ein bewusst auf Paradoxien abstellendes Führungsverhalten wirkt auf andere leicht abgehoben und rücksichtslos oder wird ganz offenbar auf Seiten von Geführten als anstrengend, frustrierend oder überfordernd erlebt, wie diesbezügliche Analysen beispielsweise von Craig Pearce mit seinem Team gezeigt haben (2019).
Damit ist es also letztlich bedeutsam, dass Führungskräfte Paradoxien nicht nur selbst offen gegenübertreten und produktiv nutzen, sondern auch ihre Geführten dafür sensibilisieren und im Umgang damit unterstützen. Um für sich und andere dabei die richtige „Flughöhe“ zu halten, ist anzuraten, darüber zu reflektieren (u.a. in Fortbildungen) und mit anderen, die einen dabei unterstützen können, zu sprechen (z.B. mit Kolleginnen und Kollegen, im Rahmen von Coachingprozessen, mit Mentorinnen und Mentoren). Und warum nicht selbst initiativ werden und eine Community of Practice gründen oder einen Kollegen dazu anstiften, gemeinsam nach Paradoxien im Führungsalltag zu suchen?