Wer kennt sie nicht, die erfolgreichen Zeitgenossen, die durch beherztes Zugreifen nach oben gekommen sind und sich für die Interessen anderer bestenfalls aus strategischen Gründen interessieren (Nehmer oder Taker genannt). Egoismus ist hier die Erfolgsformel. Allerdings lehrt uns die psychologisch motivierte Evolutionsbiologie, dass ein Überlebensvorteil aus einer gerechten Kooperation heraus entsteht. Danach wäre ein reziprokes Geben und Nehmen (Matching) eigentlich erfolgversprechender. Beide Verhaltensphilosophien erachten ihrerseits das altruistische Geben als eine inferiore Philosophie, die vielleicht individuelles Seelenheil verspreche, aber im „unbarmherzigen“ Wirtschaftsleben schnell auf das Abstellgleis führe. Folklore oder Fakt? Leadership Insiders wirft einen zweiten Blick auf die (unverbesserlichen) Geber (Giver).
Drei Verhaltensphilosophien im Wirtschaftsleben
„Mancher, der jemandem eine Gefälligkeit erwiesen hat, ist sogleich bei der Hand, sie ihm in Rechnung zu stellen; ein anderer ist zwar dazu nicht sogleich bereit, denkt sich aber doch denselben in anderer Hinsicht als seinen Schuldner, und hat den geleisteten Dienst immer in Gedanken. Ein dritter dagegen weiß gewissermaßen nicht einmal, was er geleistet hat; er ist dem Weinstocke gleich, der Trauben trägt und nichts weiter will, zufrieden, dass er seine Frucht gegeben hat.“
Adam Grant, Professor an der gerade von Managern hochgeschätzten Wharton School (University of Pennsylvania, USA), sieht, wie wohl viele von uns, persönlichen Erfolg im Arbeitsleben in einer Kombination aus harter Arbeit, Talent und Glück begründet. Allerdings erweitert er diese Formel um die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen zu Peers, Kunden und anderen ausgestalten.
Dabei unterscheidet der Organisationspsychologe drei recht stabile, durchaus nicht unbekannte Verhaltensphilosophien, um menschliche Beziehungen im Arbeitsleben einzuordnen. In jeder Situation, so der mehrfach ausgezeichnete Kollege, haben wir dabei die Möglichkeit, zu entscheiden, ob wir aus dieser Beziehung so viel herausholen möchten, wie wir können, oder aber ob wir uns überhaupt keine Gedanken darüber machen, was aus dieser Beziehung in Zukunft für mich resultiert. Oder ob wir hier eine Mittelposition einnehmen.
Ökonomen sprechen an dieser Stelle von einer stabilen Präferenz für die Art und Weise der Reziprozität (Gegenseitigkeit), die zwei Grundformen annehmen und entsprechenden Typen zugeordnet werden kann:
- Da sind zum einen die Nehmer (Taker), die aus einer Beziehung mehr herausholen, als sie hineingeben. Sie sind auf sich selbst fokussiert und bewerten soziale Beziehungen nach ihrem strategischen Nutzen. Der Eigennutz steht an erster Stelle. Sie sind der Auffassung, dass, um Erfolg zu haben, sie besser als andere sein müssen. Dementsprechend promoten sie allein sich selbst. Sie sind der festen Überzeugung, dass kein anderer an sie denken wird, sofern sie es nicht selbst tun. Der Wert der anderen wird an deren Wert zur Erreichung der eigenen Ziele gemessen – natürlich immer verbunden mit der Überzeugung, dass auf Einzelschicksale um der eigenen guten Sache willen keine Rücksicht genommen werden kann.
- Und da sind zum anderen dieGeber (Giver), die Beziehungen als einen sozialen Raum interpretieren, in dem die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten primär zur Entwicklung Dritter eingesetzt werden, zumindest sofern man um Unterstützung gebeten wird oder man selbst diese Chance für andere erkennt. Man handelt, auch wenn die eigenen Kosten (z.B. Zeitaufwand) hoch sind, es sich aber für den anderen lohnt (z.B. durch Mentoring, Verbindungen für andere herstellen, finanzielle Unterstützung gewähren etc.). Dies kann persönliche Opfer einschließen, ist jedoch keine notwendige Bedingung zu Charakterisierung dieses Typus. Geber sind keine Heiligen, sondern einfach Menschen, die anderen Menschen ohne strategische Überlegung helfen.
Während in privaten Beziehungen (Familie, Partnerschaft, Freundschaft) der Typus des Gebers durchaus verbreitet ist, wird er im Wirtschaftsleben zumindest normativ ins Abseits gestellt und nicht selten mit unschönen Bezeichnungen bedacht. Wie bei jeder Typologie ist es auch hier nun so, dass die reinen (Ideal-)Typen, also die Nehmer und die Geber, eher selten vorkommen, sondern mit Blick auf einzelne Personen faktisch eher ein Mehr oder Weniger davon besteht.
- Korrespondierend mit dieser Überlegung ist ein dritter Typus gerade im Wirtschaftsgeschehen weit verbreitet, den man als „Balancierer“ (Matcher) bezeichnen könnte. Dieser „Geber und Nehmer“-Typus ist an einem fairen Ausgleich zwischen dem, was er in eine Beziehung einbringt, und dem, was er aus ihr erhält, interessiert – und zwar prinzipiell. Eine Balance wird angestrebt und ist sie erreicht, ist man zufrieden und mit sich im Reinen. Der eigene Vorteil wird nicht gesucht, aber auch nicht aus den Augen verloren. Bei Übervorteilungen wird die Beziehung gemieden und umgekehrt wird alles getan, um andere nicht in einen Nachteil zu versetzen.
Die Grundannahme ist, dass man jede einzelne Person einem dieser drei Beziehungsstile dominant zuordnen kann, auch wenn dies nicht heißt, dass dieser dominante Beziehungsstil in jeder Situation durchschlägt. So kann man sich als Einkäufer als ein Taker verhalten, als Mentor wie ein Giver und im Team als ein Matcher, doch sollte über die Summe von Situationen eine stabile Vorliebe erkennbar sein, im einfachen Fall eine klare Handlungslinie. Auffällig sind wie immer diejenigen, die eine Verhaltensphilosophie eindeutig und unbeirrt in die Tat umsetzen.
Welcher Beziehungsstil ist erfolgreicher?
Angesichts des Offensichtlichen ist es fast müßig, zu fragen, wer im Wirtschaftsleben die Nase vorn hat. Sicherlich hat jeder Stil prima vista bestimmte Vorteile und Nachteile, doch die Managererzählung ist ja bekanntlich die, dass gerade das schnelle Ergreifen von Chancen das ist, was einen persönlich nach vorne hievt, und dabei herabfallende Späne unvermeidlich sind, oder?
Und in der Tat weist auch der Organisationspsychologe Grant aus, dass sich am unteren Ende der Leiter die Giver befinden, die andere nach vorne bringen, aber bei ihren hilfsbereiten Aktionen nicht selbst davon profitieren. Sie waren in einer Studie bei 160 kalifornischen Ingenieuren am wenigsten produktiv und effektiv im Job (gemessen an erledigten Aufgaben, fertig gestellten Reports usw., aber auch an Fehlern und verpassten Deadlines sowie verschwendetem Geld). Diese Giver kümmerten sich zu sehr um andere, waren zu gutgläubig und vernachlässigten zu stark ihre zu erreichenden Ziele. Studien zeigen zudem, dass sie im Vergleich zu den Takern weniger Geld verdienten, geringere Umsätze machten (das Kundeninteresse wurde von ihnen höher gewichtet), generell anfälliger für kriminelle Delikte gegen ihre Person waren und als deutlich weniger machtbewusst galten.
Eingedenk dieser Datenlage dürfte dieser Beziehungsstil für die meisten wohl keine Option mehr sein. Aber bevor Sie endgültig mit dieser Verhaltensphilosophie abschließen, überlegen Sie einmal, wer in den Studien wohl vorne lag? Taker oder Matcher?
Tja, weder noch. Es sind überraschenderweise wieder die Giver! Sie waren die eindeutigen Top-Performer. Wie kann das sein?
Das Geheimnis der Geber
Das Geheimnis des Erfolges der Geber liegt im Kern darin begründet, dass sie größere Netzwerke als Taker und Matcher besitzen und diese im Gegensatz zu ihnen weder strategisch initiieren und unterhalten, noch auf Ausgleich nach dem klassischen Fairnessdenken bedacht sind, sondern in diesen Beziehungen als ehrliche Unterstützer (Ratgeber, Helfer etc.) wirken, die wichtige Beiträge für den beruflichen Erfolg der anderen leisten.
Es ist das originäre Interesse an einer Sache oder einer Person, die sie motiviert, sich einzubringen, unabhängig davon, ob sie selbst irgendwann einmal daraus profitieren könnten. Man muss dazu nicht entrückt oder naiv sein, sprich: den eigenen Nutzen in Gänze ausblenden; man mag solches vielleicht hoffen, es ist aber nicht der eigene Handlungsantrieb. Und das unterscheidet sie eindeutig von den beiden anderen Typen. Sie bringen es fertig, Freude am eigenen prosozialen Tun zu erleben und dabei die Möglichkeiten anderer zu erweitern.
Ein Beispiel gefällig?
Adam Rifkin kreierte als College Student eine Website, um eine bis dahin unbekannte Band aus dem Punkmilieu einem breiteren Publikum besser zugänglich zu machen. Die Gruppe war Green Day, die einige Zeit später extremen Erfolg hatte. Als ein gewisser Graham Spencer, der einen ursprünglichen Punk bevorzugte und in Green Day lediglich eine Popgruppe sah, Rifkin bat, einen Link auf dessen Website zu einer anderen, wirklichen Punk-Website zu legen, kam er dem bereitwillig nach. Dass Spencer eine aufkommende Figur im Valley war, wusste er nicht. Als der Zuspruch zur Gruppe wuchs, bat das Management Rifkin, die Seite als offizielle Website der Band weiterführen zu dürfen. Rifkin hatte kein Problem damit, ihm ging es ja um die Band. Als er nach einigen Jahren College selbst ins Valley ging und niemanden kannte, meldete er sich bei Spencer, zu dem er bis dahin keinen weiteren Kontakt hatte, und bat ihn um Ratschläge, wie man hier als Entrepreneur erfolgreich werden könne. Spencer stimmte sofort zu. Er war inzwischen ein Big Player in der Szene. Rifkin selbst hatte nach überschaubarer Gründerzeit extremen Erfolg und setzte sich in seinen Dreißigern zunächst zur Ruhe, um danach wieder junge Firmen zu unterstützen. Und noch etwas: Er selbst wurde in den 2000ern bei einer LinkedIn-Studie als bestvernetztes Mitglied identifiziert.
Diese anekdotische Evidenz verdeutlicht, dass erfolgreiche Giver in dieser Diktion keine lebensfernen Träumer sind, die selbst keine Ambitionen haben, sondern höchst aktive und engagierte Personen, die intrinsisch motiviert Ideen, Events oder Personen unterstützen, die ihren Werten und Leidenschaften nahekommen. Sofern sie selbst einmal Hilfe benötigen, wenden auch sie sich an andere. Ihre mit der Zeit aufgebaute Reputation, wie weitere Beispiele in den Studien ausweisen, erhöht die Chance, nun selbst Unterstützung zu erfahren. Sie instrumentalisieren aber auch jetzt weder sich noch andere. In diesem Sinne verhalten sie sich moralisch vorbildlich (um nicht zu heroisieren, vielleicht besser: aus Überzeugung um die Einlösung des Kant’schen Diktums bemüht, den Menschen als Zweck, und nicht bloß als Mittel zu sehen). Und sie können Gemeinschaften/Teams in ihrer Verhaltensphilosophie verändern (Ansteckungseffekt).
Offen ist aber noch die Frage, warum die Giver am obersten wie untersten Level des Erfolgs in den von Grant ins Auge gefassten Wirtschaftsorganisationen stehen. Die Antwort ist nicht wirklich kompliziert: Die erfolgreichen Giver wissen intuitiv, wann sie ausgebeutet werden oder haben es zumindest schnell gelernt. Sie können die sich schleimig oder maskiert bewegenden Taker hervorragend einschätzen bzw. identifizieren und auf Beziehungen zu ihnen verzichten. Ihre bevorzugten „Sozialpartner“ sind entweder die um Fairness bemühten Matcher mit ihrer „Tit for Tat“-Einstellung oder andere Giver. Dass es wiederum kein Naturgesetz gibt, das Giver immer und überall in formale Top-Positionen befördert, ist m.E. anzumerken (kritisch: in sich geschlossene Cliquen, informeller Ausschluss von Minderheiten, autokratischer Beziehungsmuster zum Machterhalt).
Wie stärke ich meine Gebermentalität?
Von den Verhaltensempfehlungen, die Adam Grant am Ende seines Buches zur Stärkung des Giver-Stils empfiehlt, gefiel mir eine wegen ihrer Originalität besonders gut. Es ist das Generositäts-Experiment. Es kann in verschiedenen Versionen von Ihnen gespielt (nicht: vorgespielt) werden. Nehmen Sie sich einen Monat und erfüllen Sie (im Rahmen des objektiv Möglichen) jeden Wunsch, der an sie herangetragen wird. Das ist anstrengend, keine Frage. Dokumentieren Sie Ihre Erfahrungen während des Monats und halten sie nach, was sich aus diesen Erfahrungen (Reaktionen der anderen, ihre eigenen Gefühle, Situationsspezifika) für sie ergeben hat und ziehen Sie daraus ihre Schlüsse. Sie können das auch wiederholen. Bedenken Sie dabei, dass dieses Experiment dem Erfahrungsaufbau und der Selbstreflexion dient. Deshalb muss die Modifikation oder Stabilisierung ihres Beziehungsstils genau beobachtet werden. Der Beziehungsstil des Gebers sieht dies in der Praxis nicht vor, da er nicht in Kosten-Nutzen-Kategorien denkt und keine Bilanz zu ziehen braucht. Da aber die meisten sich in der Arbeitswelt nicht ohne Weiteres in das Wagnis des beständig einseitigen Gebens begeben werden, sind gezielte Annäherungen in meinen Augen legitim. Am Ende kann es bei denjenigen, die eine Änderung oder besser: Andersgewichtung ihres Verhaltens in Arbeitsbeziehungen anstreben, jedenfalls nur die damit verbundene Einsicht, das Richtige zu tun, und das gute Gefühl sein, was das strategiebefreite Geben in Arbeitsbeziehungen langfristig aufrechterhält.